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Aktuelle Probleme in einem Chor "aus dem 19. Jahrhundert": Sängerknaben-Palais in Wien

Foto: REUTERS/Herwig Prammer

Wien - Elf Ex-Sängerknaben - die gleiche Zahl wie bereits vergangene Woche - haben sich bis Mittwoch bei jener Hotline gemeldet, die nach dem Lautwerden von aus den 1060er- und 1980er-Jahren datierenden Misshandlungs- und Missbrauchsvorwürfen gegen den Elitekinderchor im Standard von den Chorverantwortlichen eingerichtet worden ist. Fälle aus den vergangenen zehn bis 20 Jahren seien nicht darunter, sagt Helga Longin, Sprecherin von Sängerknaben-Präsident Walter Nettig .

Leistungs- und "Arbeitsdruck"

Beim Standard hingegen haben sich in den vergangenen Tagen Mütter ehemaliger Chorbuben gemeldet, die massive Kritik an den Umgangsformen mit den Kindern im Sing- und Tourneealltag in den Jahren ab 2000 formulieren. Im Mittelpunkt ihrer Beschwerden: der Leistungs-, ja "Arbeitsdruck", dem die Neun- bis 15-Jährigen ausgesetzt seien, unzureichende Maßnahmen gegen Mobbing unter den Schülern sowie ins Gefährliche ausufernde Situationen aufgrund inkompetenter pädagogischer Begleitung.

Auf Krankheit nicht reagiert

So wurde laut einer Ex-Sängerknaben-Mutter und ehemaligen Elternvertreterin (Name der Redaktion bekannt), deren eigener Sohn auch Chormitglied war, während einer Tournee auf den sich verschlechternden Gesundheitszustand eines anderen Kindes nicht reagiert. Der Bub sei "wochenlang von einem Konzert zum anderen mitgeschleppt worden", obwohl er starke Beschwerden gehabt habe.

Nach Tournee ins Spital eingeliefert

Die damalige Elternvertreterin berichtet, dass am Telefon ein Erzieher auf die Frage der Mutter des Kranken, wie es diesem gehe, geantwortet habe: "Es geht ihm psychisch gut." Doch unmittelbar nach der Rückkehr - "er war extrem abgemagert und blass" - habe der Bub ins Spital eingeliefert werden müssen, um sein Leben zu retten.

Von Sängerknaben-Seite will Nettig-Sprecherin Longin "Einzelfälle nicht kommentieren". Es gebe unter den Chorknaben durchaus auch Kinder mit chronischen Gesundheitsproblemen, um deren besonderen Bedürfnisse man sich kümmere, betont sie.

Verschwiegenheitspflicht

Laut der Ex-Elternvertreterin wiederum führte der "Tourneefall" zur Einschaltung der Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft. Dort kann Monika Pinterits aufgrund ihrer Verschwiegenheitspflicht zu den Vorkommnissen keinen Kommentar abgeben.

"Modell aus dem 19. Jahrhundert"

Anders Wolfgang Zinggl, Kultursprecher der Grünen, der sich durchaus an den Fall und die folgende Beschäftigung von "Kinderanwaltschaft und Jugendamt" mit dem Elitechor gut erinnern kann. Das Problem der Wiener Sängerknaben sei, dass es sich bei ihnen um ein "Modell aus dem 19. Jahrhundert" handelt - sowie um einen "kommerziell geführten Tourismusbetrieb. Der Chor ist de facto eines der wenigen Unternehmen Österreichs, in denen Kinderarbeit noch erlaubt ist."

Transparenz gefragt

In "mangelnder Kontrolle" sieht indes besagte Ex-Elternvertreterin das zentrale Defizit. Der "Privatverein, der einen Vorzeigechor der Republik" betreibt, lasse sich "nicht in die Karten schauen" - auch in Sachen Finanzierung: "Was es dringend braucht, ist Transparenz."

Dass es daran mangelt, kritisiert auch eine zweite Ex-Sängerknaben-Mutter (Name der Redaktion bekannt), deren Sohn in den Jahren 2003 und 2004 im Haydnchor sang. Das herrschende Prinzip im Augartenpalais laute: "Nur nichts nach draußen dringen lassen." Aus diesem Grund sei es unmöglich gewesen, dem "Mobbing" ihres Sohnes durch ältere Schüler einen Riegel vorzuschieben. "Ein Erzieher sagte nur: 'Warte, bis du älter bist, dann kannst du dich genauso benehmen.'" (Irene Brickner, DER STANDARD Printausgabe 1.4.2010)