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Furchteinflößend präsent: Oscar-Gewinnerin Mo’Nique als Mutter der Titelheldin (Gabourey Sidibe, hinten) in "Precious"

 

 

Foto: APA/EPA/NINA PROMMER

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Hinschauen statt ausblenden: Regisseur Lee Daniels, hier gefeiert bei den Independent Spirit Awards

 

 

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Jetzt startet der preisgekrönte Film in Österreich.

Wien - Claireece "Precious" Jones hat mehr Leid angehäuft, als für ein einziges Menschenleben ausreicht. Der afroamerikanische Teenager ist übergewichtig und Analphabetin und gerade wieder schwanger, ein Kind mit Down-Syndrom hat sie schon, das aus den Vergewaltigungen ihres Vaters hervorgegangen ist; ihre Mutter sitzt alkoholkrank und arbeitslos den ganzen Tag auf der Couch und behandelt sie wie den letzten Dreck - wenn sie Precious Gegenstände nachwirft, hat sie noch einen guten Tag.

Precious ist Titelheldin von Lee Daniels' ungewöhnlichem, Oscar-prämierten Sozialdrama, das auf Sapphires gefeiertem Roman Push basiert. Ungewöhnlich bedeutet in diesem Fall: schonungslos, direkt, ohne Sicherheitsnetz. Die Geschichte einer Unterprivilegierten, einer afroamerikanischen Ghetto-Existenz (in dem in den 1980ern noch nicht gentrifizierten Harlem) wird mit einer visuellen Dreistigkeit zwischen Groteske und Sozialrealismus inszeniert, die im reichhaltigen Fundus der amerikanischen Bilderwelt eine Seltenheit darstellt.

Für den schwarzen Regisseur, der zuvor als Casting-Chef und Produzent ("Monster's Ball") arbeitete, ist der Stoff eine Herzensangelegenheit gewesen, erzählt er im Standard-Interview: "Ein Freund gab mir das Buch, und es wirkte markerschütternd auf mich - ich hatte noch nie etwas so Ehrliches, Reines und Schönes gelesen. Ich wusste sofort, dass ich den Roman verfilmen möchte." Der Umstand, dass es ein so drastisches Bild zwischen Inzest und Missbrauch abgab, schreckte ihn nicht ab: "Ich habe nie darüber nachgedacht, ob es sich gut verkauft. Mir war nur klar, dass Menschen daraus lernen könnten."

Daniels spricht direkt aus, was ihn antreibt: eine Art Pädagogik des Sichtbarmachens. In Amerika hat man ihm das, vor allem auch vonseiten schwarzer Filmkritiker, vorgeworfen - er bediene kulturelle Stereotype, die in der melodramatischen Form kaum aufgebrochen würden. "Precious" ist eine Geschichte über einen Menschen, der seinen Selbstwert entdeckt; er arbeitet ganz bewusst mit groben Bauklötzen, will seine Argumente nicht verfehlen. Der Film verfügt dennoch über ein Pathos, das unverfälscht, aufrichtig erscheint - so paradox es klingen mag: Man lässt sich von "Precious" gerne manipulieren.

"Die Geschichte gibt so vielen Menschen eine Stimme, die über keine eigene verfügen. Es gibt so viele Gesichter, die man übersieht" , sagt Daniels. Vor Vorur-teilen habe er überhaupt keine Angst: "Das ist kein spezifisches Problem von Schwarzen. Es schmerzt immer, bestimmte Stereotype wahrzunehmen, wenn sie einer Kultur angehören - das ist sicher auch in Österreich so, aber wir können wachsen, wenn wir uns diesen stellen."

"Precious" widersetzt sich auch einer Auffassung von Amerika, die einen Präsidenten Barack Obama hochhält, aber für Angehörige unterer Klassen keinen Platz in der Öffentlichkeit übrig hat: "Mit Obamas Aufstieg sah man auch die Vorurteile, die zu überwinden waren" , sagt Daniels. "Obama ist hier nicht allein hingekommen, sondern weil es unter ihm Hunderte, Tausende wie Precious gibt. Und es gab sie lange vor ihm - daher müssen wir auf sie blicken und sie zur Kenntnis nehmen."

Damit man das auch tut, hat Daniels nicht nur die Unterstützung von Oprah Winfrey und des Großproduzenten Tyler Perry bekommen. Im Film gibt es mit Lenny Kravitz, Mariah Carey und der eigentlich als Stand-up-Komikerin bekannten Mo'Nique überraschende Besetzungen, die die Logik von "Precious" umkehren: Stars spielen Figuren aus dem alltäglichen Leben.

Mo'Nique erhielt für ihre furchteinflößende Interpretation der Mutter, die immer subtilere Facetten hinzugewinnt, zu Recht einen Oscar, aber auch Carey ("Wir haben das Make-up weggelassen und sind schnurstracks zu ihrer Seele vorgedrungen" ) überrascht als zähe Sozialarbeiterin, die statt Glamour Anteilnahme ausstrahlt.

Im Mittelpunkt steht die Newcomerin Gabourey Sidibe, deren ruhige, gutmütige Gesichtszüge dem Film den notwendigen Halt verleihen - manchmal träumt sie sich fort aus der Wirklichkeit auf eine ferne Varieté-Bühne, dem einzigen Fluchtort des Films.

"Das Buch hatte diese Ebene der Fantasie nicht, es ist nicht jugendfrei, fast pornografisch" , erzählt Daniels. "Ich glaube jedoch, dass diese Ausflüchte notwendig sind, damit das Publikum Momente hat, in denen es durchatmen kann." Die Szenen erfüllen aber noch eine Funktion: Sie erinnern an die Künstlichkeit eines filmischen Universums, in dem große Gefühle und ebensolche Träume von jeher konkurrieren. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26.3.2010)