Ohne Zuwanderung gäbe es 12 Millionen Russen weniger in 14 Jahren: Russland (wie auch die Ukraine) schrumpft in einer Größenordnung, um die Ägypten, die Türkei, der Iran, Vietnam oder die Philippinen und andere Mittelmächte wachsen - von Bevölkerungsexpansionen in Ländern wie Afghanistan, Pakistan, Bangladesh, Indonesien, Mexiko, Brasilien, Äthiopien oder Kongo oder den neuen Großmächten von China bis Indien gar nicht zu reden. Stirbt Russland, immer noch eines der bevölkerungsreichsten Länder der Erde, mittel- bis längerfristig aus?

Der Westen und Japan altern bei rasch zunehmender Lebenserwartung und weit verbreiteter Langlebigkeit: immer mehr immer ältere Menschen bleiben immer "jünger" und sterben immer später. Mütterchen Russland, ganz im Gegensatz, altert ohne überhaupt alt zu werden - es stirbt jünger, doch das mittlere Alter steigt trotz sinkender Lebenserwartung!

Kollektiv Älter werden und Altern, ohne alt zu werden und ohne je individuell länger zu leben: Russland gehört zu den ganz wenigen Ländern weltweit, in dem die Lebenserwartung niedriger ist als vor einem Jahrzehnt - und sogar niedriger als vor einem halben Jahrhundert!

Eine katastrophale Welle vorzeitiger Sterblichkeit rafft vor allem Männer mittleren Alters hinweg: Nicht einmal jeder zweite erreicht auch nur das Pensionsalter. Dementsprechend ist die Lebenserwartung bei Geburt für Männer heute auf 58,9 Jahre abgesunken (noch ohne bis zu 50 Prozent "under-reporting" der Säuglingssterblichkeit einzurechnen) und bewegt sich damit unter dem Niveau sehr viel ärmerer Länder wie Bangladesch, Nepal, aber auch Pakistan oder China. Im Distrikt Koryak sank die Lebenserwartung auf 46 Jahre, vergleichbar Nigeria, der Elfenbeinküste oder dem zentralafrikanischen Malawi; in der Altersgruppe über 55 unterscheidet sich Russland nicht mehr von Sierra Leone.

Während 1964, in der Ära Chruschtschow/Kennedy, die Lebenserwartung der Männer der UdSSR nur noch 1,9 Jahre unter den USA lag, sind es heute 16 Jahre, noch mehr hinter EU-Europa. Russland ist 2005 wo die USA 1933 und Österreich um 1945 war. In den späten 1980er Jahren war die UdSSR bereits weit zurückgefallen, aber noch vor Asien und Lateinamerika. Doch allein 1987 bis 1993 sank die Lebenserwartung um sechs Jahre, so viel wie in der gesamten Periode 1964 bis 2005.

Gleichzeitig hat sich die jährliche Geburtenzahl von rund drei Millionen 1950 auf 1,5 Millionen verringert, mit der Erwartung eines weiteren Absinkens auf unter eine Million nach 2020. Diese für Europa gar nicht unübliche Geburtenschwäche (12 EU-Länder haben derzeit eine noch niedrigere Fertilität als Russland) führt jedoch im Zusammenwirken mit der Mortalitätskrise bei Männern auch zu dramatischem Bevölkerungsschwund: 1992 bis 2006 gab es einen natürlichen Bevölkerungsverlust, d.h. einen Überhang von Todesfällen über Geburten von 12 Millionen Menschen. Von den 290 Millionen Sowjetbürgern und 148 Millionen Russen zum Zeitpunkt des Zerfalls der Sowjetunion 1991 sind gerade einmal 142 Millionen übrig, die sich bei konstanter Sterblichkeit/Fruchtbarkeit bis 2050 auf 100 Millionen, bis zum Jahr 2100 auf bloß noch 34,7 Millionen (Bandbreite 23,8 bis 46,6 Millionen) Bürger reduzieren würden.  (Bernd Marin/DER STANDARD, Printausgabe, 23.3.2010)