Bisher habe ich die öffentliche Debatte über den sexuellen Missbrauch in katholischen Einrichtungen mit wachem Interesse und aus schützender Distanz beobachtet. Letztere aber hat mir der Kommentar des Altkremsmünsterers Josef C. Aigner im Samstag-STANDARD vom 13. März geraubt.

Auch ich habe acht Jahre meines Lebens (1964-1972) in Kremsmünster das Konviktsgymnasium besucht und im Internat gelebt. Auch mich stört das zwanghafte Hervorzerren und Öffentlichmachen von Sexualität durch Medien und Pharmaunternehmen zur Erhöhung der Auflagenzahl oder des Umsatzes, auch ich verurteile ganz normale körperliche Gewalt als Missbrauch, auch ich bin der Meinung, dass die Urheber dieser Misere ganz oben zu suchen sind, aber bitte!, was hat den "Erziehungswissenschafter und Psychotherapeuten" J. C. Aigner geritten, wenn er eingangs sinngemäß meint, die ohnehin nicht in der aggressivsten Form Missbrauchten hätten es im Vergleich zu den normal Misshandelten schöner gehabt, weil sie als Chorsopranisten oder zierliche Turnknaben ohnehin "besondere Zöglinge, Bevorzugte und Privilegierte" gewesen seien. Höre ich hier den Neid des Besitzlosen?

Man kann halt nicht alles haben: eine gute Aufklärung und selbstbewusste Erziehung, Eltern, die sich sofort beschweren gehen - für meine Eltern kam der Priester gleich nach dem lieben Gott - und ein Liebkind der Erzieher sein. Weiß J. C. Aigner denn nicht mehr, dass manche Mitschüler (zu denen auch ich mich zähle) alle Missbrauchsformen gleichzeitig zu ertragen hatten, vom Präfekten den sexuellen, vom Direktor des Internates den körperlichen, vom Turnprofessor den psychischen und von den Klassenkameraden den mitmenschlichen Missbrauch (als "besonderer Zögling" war man aus der Klassengemeinschaft ausgestoßen, als Freund unerwünscht, als Spitzel geächtet). Von solchen Schulkameraden - den "Selbstbewussten" - möchte ich nicht noch einmal Herablassung erfahren, Herr J. C. Aigner.

Es verwundert mich auch, dass ich einige Zeilen später zum "Zeugen des völligen Versagens meiner sexuellen Entwicklung im Rahmen der priesterlichen Ausbildung und Sozialisation" gemacht werde. Gott sei Dank ist mir - ganz ohne Psychologie oder Psychotherapie - durch das Leben an der Seite meine Frau, die im übrigen keine universitäre Ausbildung besitzt, dafür aber ein reges Interesse am Nachdenken und Philosophieren hat, bleibender Schaden erspart geblieben.

Als unmittelbar Betroffener (diese persönliche Erfahrung fehlt Herrn J. C. Aigner nach eigener Aussage) finde ich, dass selbst der geringste sexuelle Missbrauch (juristisch die "unsittliche Handlung" - im Internatsdeutsch das nächtliche "Ausgreifen" durch den Präfekten) für die jugendliche Psyche ein schädigenderes Delikt ist, als eine körperliche Züchtigung, die damals in vielen Elternhäusern ja auch praktiziert wurde.

Ich möchte die acht Jahre meines Lebens in Kremsmünster nicht missen, mein soziales Interesse und meine humanistische Einstellung wurden dort maßgeblich geprägt. Das insgesamt Erlernte wiegt meine persönlichen schmerzlichen Erfahrungen bei Weitem auf.

Von einem "Erziehungswissenschafter und Psychotherapeuten" - als solcher, und nicht als Privatperson mit einer privaten Meinung, wird J. C. Aigner zitiert - dürfte man sich wohl eine objektivere und feiner differenzierte Stellungnahme zum Thema erwarten.