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Bei aller Aufmerksamkeit für den Krieg im Irak sollte man die Entwicklungen in Indien nicht aus den Augen verlieren, meint Arundhati Roy.
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Vor einem Jahr rief mich eines Nachts eine Freundin an. Weinend erzählte sie mir von ihrer Freundin, der ein wütender Mob den Bauch aufgeschlitzt und brennende Lumpen hineingesteckt hatte. Welche hinduistische Schrift predigt so etwas? Der indische Premierminister A. B. Vajpayee rechtfertigte diese Tat als Teil der hinduistischen Vergeltung für muslimische "Terroristen", die in Godhra einen Zug in Brand gesteckt hatten, in dem 58 Hindus verbrannt waren. Welcher Vers im Koran forderte, diese Menschen bei lebendigem Leib zu braten?

Je mehr Hindus und Muslime in Indien durch gegenseitiges Abschlachten ihre Unterschiedlichkeit beweisen wollen, desto weniger unterscheidet sie tatsächlich voneinander. Sie beten am gleichen Altar, sind Aposteln des gleichen mörderischen Gottes, wer immer er auch sein mag.

Ein Jahr nach dem Massaker von Godhra und den darauf folgenden antimuslimischen Pogromen in der Provinz Gujarat, ist Indien wieder dabei, einen Schluck aus dem vergifteten Kelch - seiner mit religiösem Faschismus verbrämten Demokratie - zu nehmen. Im Parlament wurde ein Porträt des vor der Unabhängigkeit gefeierten hinduistischen Nationalisten Vinayak Savarkar enthüllt. Einer seiner Nachfolger war der Mörder Mahatma Gandhis. Auch der Bau eines Tempels für den Gott Ram in Ayodhya, an der Stelle, wo 1992 ein hinduistischer Mob eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert zerstörte, wird lautstark gefordert.

Werden im Land Milch und Coca-Cola fließen, wenn dereinst die Muslime "an ihren Platz verwiesen" wurden? Wird neuer Hass entstehen? Wer wird das Ziel dieses Hasses sein - Adivasis, Buddhisten, Christen, Dalits, Parsis, Sikhs? Diejenigen, die Englisch sprechen? Die mit dicken Lippen? Welch verkommenes Bild soll Indien ohne die spektakuläre Anarchie seiner vielfältigen Kulturen abgeben?

Hitler als Idol

Die Parallelen zwischen Indien heute und Deutschland vor den Nazis sind erschütternd, aber nicht überraschend. Zahlreiche Hindu-Nationalisten machen kein Hehl aus ihrer Bewunderung für Hitler. Noch haben wir keinen Hitler. Stattdessen haben wir eine hydraähnliche Organisation namens Sangh Parivar - die "gemeinsame Familie" politischer und kultureller Hindu-Organisationen.

Sangh Parivar ist gekennzeichnet durch ihre Fähigkeit, für jeden alles zu sein. Während der Vishwa Hindu Parishad (VHP oder Welt-Hindu-Rat) seine Kader mahnt, sich für die Endlösung vorzubereiten, versichert Premierminister Vajpayee der Nation, dass alle Bürger, unabhängig von ihrer Religion gleich behandelt werden.

Natürlich hat es in Indien schon alle Arten von Pogromen gegeben - gegen Kasten, Volksstämme und Religionen. Nach der Ermordung von Indira Gandhi führte die regierende Kongresspartei die Regie bei dem Massaker an 3000 Sikhs. Der Kongress säte die Zwietracht bei jedem heiklen Thema - von den Atomtests bis zu regionalen Konflikten - und Vajpayees nationalistische BJP-Partei bringt die abscheuliche Ernte ein.

Während jedoch der Kongress den lokalen Hass verdeckt und verschämt schürte, geht die Sangh Parivar offen ans Werk. Über viele Jahre hat sie der Gesellschaft ihr langsam wirkendes Gift verabreicht. Hunderttausende Jugendliche wachsen mit religiösem Hass und Geschichtsfälschung auf. Ihr Stundenplan ist genauso gefährlich wie jener in den Medressen Pakistans und Afghanistans, der die Taliban hervorbrachte.

Sobald es zu Feindseligkeiten zwischen Indien und Pakistan kommt, wächst auch die Feindseligkeit gegenüber den Muslimen. Indischer Nationalismus ist zunehmend Hindu-Nationalismus, der nicht auf Selbstachtung beruht, sondern auf Hass gegen die "anderen" - nicht nur gegen Pakistanis, sondern gegen alle Muslime.

Alles liebäugelt mit diesem Faschismus - Parlament, Presse, Polizei und der Verwaltungsapparat. Wenn irgendeine Institution (inklusive des Obersten Gerichtshofes) freie und uneingeschränkte Macht ausübt, ist die Aushöhlung der Bürgerrechte nicht weit.

Die Bekämpfung des religiösen Faschismus bedeutet, dass man die Herzen und den Verstand der Menschen zurückgewinnen muss. Es bedeutet, dass man von öffentlichen Institutionen Rechenschaft verlangen darf und den Machtlosen Gehör schenkt. Es bedeutet, dass der unrechtmäßigen Besitzergreifung Einhalt geboten und die alltägliche Gewalt der Armut bekämpft wird. Es bedeutet, dass man den Zeitungen und den TV-Sendern nicht gestattet, die allgemeine Aufmerksamkeit auf inszenierte Theatralik zu richten.

Es bedeutet allerdings nicht, lokale Medressen zu verbieten, sondern daran zu arbeiten, dass diese eines Tages aufgrund besserer Einsicht geschlossen werden. Wie die Termiten haben die Hindu-Faschisten die Grundfesten unserer Verfassung, des Parlaments und der Gerichte - des Rückgrats jeder Demokratie - zerstört. Es ist allerdings müßig, irgendwelchen Politikern die Schuld daran zu geben oder ihnen moralisches Handeln abzuverlangen, zu dem sie nicht fähig sind.

Alte Ressentiments

Wenn uns die indischen Politiker im Stich lassen, dann nur, weil wir nichts dagegen unternommen haben. Unsere Faschisten haben diese Ressentiments von heute nicht erschaffen. Jede Strategie für einen echten sozialen Wandel und mehr soziale Gerechtigkeit - Landreform, Bildung, Gesundheitswesen, gerechte Verteilung natürlicher Ressourcen - wurde von gerissenen Kasten und Personen mit besten Verbindungen zur hohen Politik unterbunden.

Die faschistischen Hindus haben sich dieser Ressentiments angenommen und die Menschen unter Einsatz des kleinsten gemeinsamen Nenners - der Religion - mobilisiert. Menschen, die die Kontrolle über ihr Leben verloren haben, aus ihren Familien und Gemeinschaften gerissen wurden, denen ihre Kultur und Sprache genommen wurde, können plötzlich stolz auf etwas sein. Nicht auf etwas, das sie erreicht haben, sondern auf etwas, das sie zufällig sind oder eben zufällig nicht sind.

Der Faschismus kann nur bekämpft werden, wenn diejenigen, die darüber schockiert sind, sich der sozialen Gerechtigkeit in einem Ausmaß verpflichten, das ihrer Entrüstung gleichkommt. Sonst werden wir gewöhnlichen Inder - wie einst die Bürger in Hitler-Deutschland - unseren Kindern später nicht in die Augen schauen können, weil wir uns dafür schämen werden, was wir nicht verhindert haben. (D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 11.4. 2003)