Kapuściński mit angolanischen Rebellen 1975.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, das lässt sich nur bedingt planen, besonders in Afrika. In einem Monat wird im Sudan gewählt, und unter Journalisten wird seit Wochen die eine Frage diskutiert: Wo lockt am Wahltag die beste Geschichte? In Khartum, der Hauptstadt, wo sich vermutlich die Zukunft von Präsident Omar al-Bashir entscheiden wird? In Darfur, wo Millionen Vertriebene kaum in der Lage sein werden, ihre Stimmen abzugeben? Oder doch im Süden des Sudan, für den die Wahl nach 20 Jahren Bürgerkrieg die letzte Hürde für die Unabhängigkeit darstellt? Von der Entscheidung hängt ab, wohin man reist, und damit, ob die eigene Geschichte eine bemerkenswerte wird.

Afrika hat sich wenig geändert seit den Zeiten, als Ryszard Kapuœciñski seine Depeschen aus dem Bürgerkrieg in Angola, vom kaiserlichen Hof in Äthiopien oder aus dem südamerikanischen Dschungel schickte, Interview mit Che Guevara inklusive. Wer eine Geschichte schreiben will, muss an Ort und Stelle sein. Weil diese Orte meist entlegen sind, entscheidet bis heute oft ein Einzelner darüber, was weltweit berichtet wird.

Vielleicht ist der Einfluss des einzelnen Reporters sogar noch größer als früher, weil seine via Internet verbreiteten Aussagen sofort millionenfach kopiert werden: Dass es bei den Unruhen in Nigeria vor einer Woche mehr als 500 Tote gab, beruht auf der Aussage eines einzelnen Reporters, der mehrere internationale Medien beliefert. Doch die Zahl wird sofort zum Fakt, auch deshalb, weil man sie nicht hinterfragen kann außer bei ihrem Urheber.

Somalia ist dafür vielleicht das erschütterndste Beispiel: Seit Jahren reist kaum ein westlicher Journalist dorthin, weil die Gefahr, gekidnappt oder ermordet zu werden, so groß ist. Selbst die meisten somalischen Journalisten sind vor den Islamisten und den Kämpfern der Regierung geflohen. Was wirklich in Somalia passiert, erfahren wir Afrika-Korrespondenten nur über Umwege und oft zweifelhafte Quellen. In diesem Dickicht Dichtung und Wahrheit zu trennen ist eine Frage der Einschätzung. Jeder Korrespondent hofft, dass er die richtige trifft.

Zu schön, um wahr zu sein

Umso schöner lesen sich die Texte Kapuścińskis, die bis heute zeitlos schön geblieben sind. Man hätte ahnen können, dass sie zu schön sind, um wahr zu sein, wie sich jetzt herausgestellt hat. Kapuściński hat Guevara nie getroffen, schreibt sein Biograf Artur Domosławski. Der von Journalisten aus aller Welt verehrte Kapuœciñski war wohl stets am richtigen Ort, nur die richtige Zeit, die erfand er oft dazu. Bei den Wahlen im Sudan hätte er den Wahlverlierer vermutlich in dem Moment getroffen, als diesem seine Niederlage verkündet wird und das Land in Jubel (oder Trauer) ausbricht: Das war es, was die Leser haben wollten.

Dass Kapuściński mit der Wahrheit spielte, mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass er so viel Zeit in Afrika verbrachte. In seinem letzten Buch Truth at first light schreibt Ernest Hemingway: "Was in der Morgendämmerung als Wahrheit erscheint, ist am Abend schon eine Lüge."

Fakten sind in Afrika alles andere als unumstößlich: Wer hier schon einmal Interviews gemacht hat, weiß, dass Aussagen sich binnen Stunden in ihr Gegenteil verkehren können. Selbst Namen ändern sich, schließlich hat jeder Afrikaner einen reichen Fundus davon. Das mag noch nicht erklären, warum man eine Begegnung mit Guevara erfindet. Doch wer lange in Afrika gelebt hat, kann solche Lässlichkeiten mit der Wahrheit nachvollziehen - auch wenn er sie für sich selbst peinlichst vermeidet. (Marc Engelhardt aus Nairobi, DER STANDARD, Printausgabe 16.3.2010)