Der Bildpunkt. Zeitschrift der IG BILDENDE KUNST erscheint vier Mal im Jahr. Jede Ausgabe widmet sich einem Themenschwerpunkt. Zentral sind dabei ästhetische, aktivistische und theoretische Strategien samt ihrer gegenseitigen Verschränkungen und Überschneidungen. Drei künstlerische Positionen brechen jeweils das Textmonopol. Thema der aktuellen Ausgabe: "Regimestörungen"

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Cover: TiD - Toledo i Dertschei

Am 28./29. Mai 2010 findet an der Akademie der bildenden Künste Wien das Symposium "Regime. Wie Dominanz organisiert und Ausdruck formalisiert wird" statt. Organisiert wird es von der Regime-Gruppe, bestehend aus Petja Dimitrova, Eva Egermann, Maren Grimm, Tom Holert, Jens Kastner und Johanna Schaffer. Alle lehren in unterschiedlichen Funktionen an der Akademie und sind entweder KünstlerInnen und/oder KunsttheoretikerInnen.

Jens Kastner: Das Regime tritt als Begriff in unterschiedlichsten Diskursen auf: Vom Akkumulationsregime in der marxistischen Regulationstheorie bis zum Zeichenregime in Gilles Deleuze´ Rede über den Film scheinen sehr verschiedene Dinge bzw. Zusammenhänge damit gemeint zu sein. Was macht den Terminus so reizvoll, dass er sogar zur Veranstaltung eines Symposiums ermuntert?

Tom Holert: Einer der Ausgangspunkte für die Beschäftigung mit dem Begriff war die Feststellung, dass es innerhalb der unterschiedlichen kunst- und bildtheoretischen Diskurse einen relativ beliebigen Umgang damit gibt. Er soll in der Regel eine Form der Organisation oder des Arrangements von machtdurchzogenen Äußerungsgefügen beschreiben, geht dabei aber, zum Beispiel beim Blickregime oder "skopischen Regime" (Martin Jay), von der Idee ab, mit der Behauptung der Existenz eines privilegierten Subjekts des Sehens wäre bereits genug geleistet. Stattdessen werden die regimoiden Formen in Netzwerken, Verkettungsgefügen und Strukturen verortet. Diese Versuche, Macht anders zu lokalisieren als in den "Machthabenden" oder den "Herrschenden", sondern als Ursachen und Effekte von Regulierung, ist etwas, was auch das Reden über Formen der Wahrnehmung und der ästhetischen Produktion verändert. Dass der Regime-Begriff in der französischen Theorie besonders beliebt ist, hat sicherlich auch damit zu tun, dass das Französische den Begriff vielfältig verwendet, nicht nur von politischen Regimen (das Nazi-Regime, das Sowjet-Regime usw.) spricht, sondern auch zum Beispiel vom körperlichen Regime der Diät. 

Dieses offene Verständnis von Regime eröffnet die Möglichkeit, Perioden von Regimen zu unterscheiden, also zum Beispiel Ordnungen der Wahrnehmung und des Wissens voneinander abzugrenzen, wie etwa Michel Foucault oder Jacques Rancière das tun, oder wie es etwa von Theoretiker_innen des Geschlechterregimes getan wird. Das gilt ähnlich für nicht poststrukturalistische und nicht wahrnehmungsbezogene Regime-Begriffe wie den der Regulationstheorie, in der es ebenfalls ein Bestreben gibt, verschiedene Regime als aufeinander folgende und/oder auch ineinander verschränkte zu beschreiben, jedenfalls als unterscheidbare zu charakterisieren und voneinander abzugrenzen.

Einen dritten Bereich halte ich für wichtig und das ist der der governance, d.h. der transnationalen Regierungsformen, in denen sich durch die Kooperation und die Allianzen unterschiedlicher staatlicher, ökonomischer und zivilgesellschaftlicher Akteure bestimmte Regime ergeben. Ein solches Regime wäre beispielsweise in den internationalen Währungsvereinbarungen von Bretton Woods zu sehen. In diesem Fall zeichnet sich ein Regime durch das Zusammenbinden verschiedenster, oft widersprüchlicher Interessen aus. Durch die Verknüpfungen dieser drei unterschiedlichen Ebenen kann der Begriff eine transdisziplinäre Reichweite annehmen.

Jens Kastner: Um an der Periodisierung und der Formierung von Herrschaft durch die Neuordnung von AkteurInnen und Kräfteverhältnissen gleich anzuknüpfen: Warum wird der Regime-Begriff gerade jetzt ins Spiel gebracht? Sind wir möglicherweise an einem Punkt angelangt, an dem andere Labels nicht mehr funktionieren? Diese Frage ließe sich auch als Präzisierung der ersten formulieren: Was hat oder kann das Regime, was beispielsweise Hegemonie und Gouvernementalität nicht haben oder leisten können?

Johanna Schaffer: Mir scheint entscheidend zu sein, an welchem Ort wir den Regime-Begriff aufgreifen, nämlich an der Akademie der bildenden Künste, und zu welcher Zeit, nämlich als im Zuge der Proteste gegen den Bologna-Prozess vor dem Portal ein Stencil auffordert "Autokratische Regime neoliberaler Prägung abschalten." Was mich am Regime interessiert, ist - so wie wir den Begriff fassen - die Verknüpfung der Organisierung von Herrschaft und der Form, die diese Herrschaft annimmt bzw. ausmacht. Dass politische und ästhetische Fragestellung in dem Begriff ineinander verwoben sind, unterscheidet ihn meiner Ansicht nach von Begriffen wie Hegemonie oder Herrschaft. Das Wort lädt so gesehen dazu ein, neben Grammatiken und Regelwerken eben auch autoritäre Formen zu untersuchen und die Frage zu stellen, wie mit ihnen umzugehen ist. Mich interessiert, welche Formen welche Politiken ermöglichen, welche Formen Herrschaft möglichst verunmöglichen, und wo sich in deren Formierungen und Formulierungen Risse oder Brüche auftun, um schließlich Regime zu verwirren oder meinetwegen auch abzuschalten.

Jens Kastner: Bevor wir zur Frage der Reaktionen auf die Regime kommen, würde ich gerne noch die Tragweite und/oder den Nutzen des Begriffs auch für die Analyse sozialer Verhältnisse etwas weiter ausloten.

Eva Egermann: Die Rede vom Regime ermöglicht es meiner Ansicht nach auch, die Frage nach der eigenen Verortung innerhalb von Herrschaftsprozessen zu stellen. Es beschreibt Ordnungen und Formen der Herrschaft, in denen die Subjekte integraler Bestandteil sind und die von ihnen schließlich mit exekutiert bzw. verändert werden. Ein Gegen-Regime aufzubauen ist insofern wesentlich schwieriger vorstellbar als beispielsweise gegen-hegemoniale Verhältnisse zu etablieren. Die Beschäftigung mit Regimen fordert aber insofern auch dazu auf, den eigenen Standpunkt und die eigene Involviertheit in Machtverhältnisse zu reflektieren. Wie verhalten wir uns zu den Regimen? Gerade in Bezug auf gegenwärtige, neoliberale Umstrukturierungs- und Optimierungsprozesse und der damit einhergehenden Rhetorik - nicht zuletzt an den Orten, an denen wir uns befinden, im Kunst- und Bildungsbereich - finde ich eine solche Reflektion wichtig.

Maren Grimm: Der Regime-Begriff, um das noch zu ergänzen, ist ja in Form des Grenzregimes oder des Migrationsregimes auch ganz konkret aus der aktivistischen politischen Praxis heraus in die Diskussion eingebracht worden. Innerhalb dieser Praxis scheint mir die Funktion der Identifizierung und Benennung eine entscheidende zu sein, und zwar sowohl hinsichtlich der Selbstvergewisserung der AktvistInnen als auch in Bezug auf die diskriminierenden Strukturen.

Jens Kastner: Das gilt allerdings für das Akkumulations- und selbst für das Zeichenregime nicht. Hier spielt eine ermächtigende Selbstbeschreibung eine viel geringere Rolle als die Frage nach Regulierungen und nach Stabilitäten der Verhältnisse.

Petja Dimitrova: Beteiligung und Regulierung müssen sich ja nicht widersprechen, spielen doch die Prozesse der Stabilisierung gerade im Grenz- und Migrationsregime eine zentrale Rolle. Für mich hat der Regime-Begriff in letzter Zeit vor allem im Hinblick auf die Analyse der Postdemokratie an Schärfe gewonnen, weil er die kontinuierlichen Ausgrenzungen bzw. Ausschlüsse bestimmter Gruppen thematisieren kann. Hier entfaltet sich das Regime auf blutige Art und Weise, d.h. seine Gewaltförmigkeit tritt in den Vordergrund.

Jens Kastner: Aber beinhaltet nicht auch das Migrationsregime diese, vorhin von Eva hervorgehobene nicht-repressive Dimension der eigenen Beteiligung und der aktiven Gestaltung? Nicht zuletzt um MigrantInnen nicht immer als Opfer zu thematisieren, ist der Begriff doch auch ins Gespräch gebracht worden.

Petja Dimitrova: Innerhalb des Migrationsregime spielt aber der Rassismus eine enorm große Rolle. Regulierung durch Ausschlüsse und selbst Identitätspolitiken, also auch die Frage der "Integrierbarkeit" und "Assimilierbarkeit", sind mehr und mehr rassistisch formiert. Insofern beinhaltet das Migrationsregime auch eine historische Kontinuität, die andere Regime nicht aufweisen.

Eva Egermann: In gewisser Weise lässt sich auch für das Migrationsregime sagen, dass das Regime dazulernt und beispielsweise Ergebnisse und Kritik der Migrationsforschung assimiliert und Migrationswissen für das Migrations-Management verwertbar macht, Störungen und Gegenstrategien werden sozusagen u.a. zu Ressourcen und Lernhilfen des Regimes.

Tom Holert: Hinsichtlich des Migrationsregimes lässt sich sicherlich auch besonders gut zeigen, wie gerade unter postdemokratischen Verhältnissen die vom Regime betriebenen Formalisierungen mit informellen, häufig illegitimen, durch keine Verfassung gedeckten Regulierungen einhergehen. Diese Nicht- oder Un-Form von Regimen, die durchaus mit hohen Ansprüchen an Formalität einhergehen kann, provoziert eigene Untersuchungsmethoden und Kritikfiguren, die den Baukasten der politischen Theorie erweitern könnten. Letztlich kommen wir nicht umhin, diesbezüglich unsere eigene Setzung vorzunehmen. Das Regime, würde ich vorschlagen, ist immer temporär und provisorisch. Dabei ist es auf maximale und effiziente Regulierungskraft ausgelegt und entwickelt Autorität ohne Autorschaft und Autorisierung.

Maren Grimm: Viele der Begriffe, die hier fallen, um Regime zu charakterisieren, scheinen genauso geeignet, Guerilla-Strategien zu beschreiben: Temporär und provisorisch im Sinne auch von schnell, unerwartet, flexibel und eben klandestin. Lässt sich daran nur einmal mehr feststellen, was Eva schon sagte: die Fähigkeit der Regime, kritische Praxen zu assimilieren und zu integrieren? Oder lässt sich der Regime-Begriff auch aktivistisch aneignen bzw. lassen sich daraus Praxen des Dagegen-Arbeitens entwickeln?

Jens Kastner: Das halte ich auch für möglich, würde aber dennoch den analytischen Schwerpunkt des Begriffs vor allem im Hinblick auf Regulierungen und deren Prozesshaftigkeit setzen. Dann stellt sich die Frage der Praxis aber vielleicht anders, als vorhin angedeutet: Ein Regime ist kein Apparat, der sich abschalten ließe. Regime lassen sich nicht stürzen, aber - so die Titelthese dieser Bildpunkt-Ausgabe - vielleicht stören. Wenn Regime alle Produktivitäten in die Neuordnung von Dominanz integrieren, wie vertragen sich dann Regime und Handlungsfähigkeit bzw. Handlungsmacht (agency)?

Eva Egermann: Der Begriff des Regimes könnte zuallererst dazu dienen, die formalen und informellen Zusammenhänge von Herrschaftsverhältnissen und deren Modulierbarkeiten genauer zu analysieren. Dies könnte auch im Konkreten und bezogen auf einen gewissen Bereich und bestimmte Formationen passieren. Eine Forderung, wie die nach der Abschaltung autokratischer Regime neoliberaler Prägung, wie sie an die Fassade der Akademie der bildenden Künste gesprayt wurde, erkennt und spricht aus, dass es diese gibt, äußert den Wunsch sie zu kippen und macht somit eine Praxis des Dissenses gegenüber einer herrschenden Politik sichtbar.

Tom Holert: Selbst wenn wir den Begriff etwas neutraler als Form der Organisierung fassen würden, im Sinne des positiv aufgeladenen Netzwerk-Begriffes beispielsweise, sollten wir nicht auf Finalisierungen wie abschalten oder abbrennen abzielen. Die Vorstellung des Verlassens, also eine regimetheoretische Anwendung des Exodus-Gedankens, scheint mir da um einiges sympathischer.

Petja Dimitrova: Wie könnten wir mit dem Regime verfahren? Es verraten, es verletzen?

Johanna Schaffer: Ich finde schon wichtig, daran festzuhalten, dass wir alle auch Erfahrungen machen, die "anders" sind, d.h. wir alle kennen Situationen, in denen es mehreren gelingt, sich temporär aber reflexiv miteinander zu organisieren und darin Momente jenseits und außerhalb von Herrschaft zu erfahren. Gleichzeitig geht es darum, selbst solche Erfahrungen dann nicht zu verabsolutieren und zu einer neuen Wahrheit oder einem Gegen-Regime zu vereindeutigen. Obwohl es also Herrschaft als beteiligende, gewalttätige und flexible gibt, existieren mittendrin Erfahrungsmomente jenseits von Herrschaft, und die gilt es meines Erachtens auszudehnen.

Eine Zusammenarbeit von Bildpunkt und derStandard.at/Kultur. Das Gespräch fand am 27. Jänner 2010 in Wien statt und wurde von Jens Kastner für den Bildpunkt organisiert.