Ryszard Kapuściński

Foto: Heribert Corn

In meiner Kindheit gab es ein unschuldiges Spiel, das hieß Stille Post, dabei saßen wir nebeneinander, und der Erste flüsterte seinem Nachbarn ein Wort ins Ohr, das er sich ausgedacht hatte, der sagte es leise dem Nächsten weiter, bis die stille Botschaft beim Letzten angelangt war. Der verkündete, was er gehört hatte, worauf der Erste das ursprünglich gesagte Wort bekanntgab. Das Resultat war erheiternd. Von Ohr zu Ohr hatte sich das Gesagte verändert, bis etwas ganz anderes herauskam.

Immer gab es welche, die das Gehörte absichtlich falsch weitergaben, das war nicht erlaubt, doch es war bloß ein Spiel, Hauptsache, wir hatten unseren Spaß dabei.

Die Diskussion um die Ryszard Kapuściński-Biografie erinnert manchmal an dieses kindliche Vergnügen, besonders was die Reaktionen im Ausland angeht. Da wird über Dinge berichtet, die sich in der Biografie gar nicht finden, da schreibt einer vom anderen ab, wobei er die Tatsachen verdreht, da werden Unterstellungen als Fakten übernommen, vor allem wenn solche Informationen aus Polen kommen, von dort tätigen Korrespondenten. Die haben den anderen viel voraus, die haben das Buch schon gelesen. Wie das funktioniert, will ich an einem Beispiel erläutern.

Als das Buch erschien, publizierte der Warschauer Korrespondent der Süddeutschen Zeitung einen umfangreichen Beitrag, übertitelt: "Mein Freund Che" . Der Titel bezieht sich auf Domosławskis Aussage, Kapuściński habe die Legende von seiner Bekanntschaft mit Che Guevara und Patrice Lumumba absichtlich in die Welt gesetzt, um seine eigene Bedeutung zu unterstreichen. Die Beweise des Kapuściński-Biografen Artur Domosławski sind dünn, er kann sich nur auf den Klappentext der englischen Ausgabe von Wojna futbolowa (dt. Der Fußballkrieg, Eichborn, 2000) berufen, wo sich diese Behauptung findet, allerdings wird sie nicht Kapuściński selbst in den Mund gelegt, sondern es heißt: "Er war befreundet mit ..."

Warum Kapuściński, wenn ihm diese Legende so wichtig war, nicht dafür sorgte, dass das auch von allen anderen Verlagen übernommen wurden, in Deutschland, Italien, Schweden, Frankreich usw., kann Domosławski nicht erklären, und der Korrespondent hinterfragt es nicht. Er geht, im Gegenteil, noch einen Schritt weiter, er begnügt sich nicht mit dem Klappentext, sondern schreibt: "... Kapuściński erzählte in Interviews weiterhin von Che, als habe er diesen bei gefährlichen Unternehmen begleitet" .

Wann hat Kapuściński das erzählt? Wem? In welchen Interviews? Ich glaubte zuerst, in der Biografie etwas übersehen zu haben. Ich nahm mir nochmals das Buch vor. Doch da findet sich kein Hinweis auf diese Interviews, geschweige denn ein Zitat.

Es ist wie bei der Stillen Post. Domosławski schreibt, Kapuściński habe eine Notiz im Klappentext nicht korrigieren lassen. Der Korrespondent macht Interviews daraus. Das mit dem Klappentext ist ihm wohl zu flau, das ergibt keinen Titel, also schreibt er, Kapuściński habe in Interviews (nicht in einem, nein, in mehreren) erzählt, er habe Che bei seinen gefährlichen Unternehmen begleitet.

Der Nächste schreibt dann vielleicht, Kapuściński habe Seite an Seite mit Che gekämpft. Und was kommt am Schluss heraus? Das wissen wir noch nicht, das Spiel geht noch weiter, doch es würde mich nicht wundern, wenn jemand am Ende schriebe, Kapuściński habe in Interviews gesagt: "Ich war Che Guevara!"

Das wäre eine tolle Story!

Aber die Sache ist nicht witzig, obwohl man schon manchmal lachen muss. Doch wenn man sich vor Augen hält, wie hier jemand in einem Text, in dem es um journalistische Standards geht, in dem er einem großen Reporterkollegen unter die Nase reibt, er habe es mit der Wahrheit nicht immer so genau genommen, selbst mit der Wahrheit umgeht, könnte man eher weinen.

So werden Legenden gemacht. Aus Halbwahrheiten entstehen Wahrheiten, aus Gerüchten harte Fakten. In diesem Fall muss man Artur Domosławski von aller Schuld freisprechen; dafür, was ausländische Kollegen aus seinem Buch herauslesen, kann er nichts.

Ich habe in den letzten Tagen einige Interviews über die Kapuściński-Biografie gegeben, für deutsche und österreichische Medien. In allen wurde dieser Punkt angesprochen. Was ich dazu sage, dass sich Kapuściński als Freund, ja Mitkämpfer Che Guevaras gerühmt hat, was nachweislich nicht stimmt?

- Aber das hat er nirgends gesagt, das behauptet nicht einmal sein Biograf.

- Nein? Aber so steht's in der Süddeutschen Zeitung.

Das ist der Punkt. So steht's in der renommierten Süddeutschen Zeitung.

Was steckt dahinter? Ist das Schlamperei?

Aber die wirft man stets uns Österreichern vor (zu Recht!), die Deutschen sind nicht schlampig, die sind genau, penibel, korrekt, akkurat und noch mehr. Nein, es muss eine andere Erklärung geben. Ich glaube, dass nun die Stunde der kleinen Reporter anbricht, die lange Zeit im Schatten standen, die ständig das Gefühl hatten, zu wenig Beachtung zu finden. Sie haben jahrelang voll Neid auf den großen Kollegen geblickt, der so viel Ruhm einheimste. Das hat ihnen jedes Mal einen Stich versetzt. Doch sie haben es ruhig hingenommen, sie haben ihn nie kritisiert, sind ihm stets freundlich lächelnd begegnet, haben ihm schöngetan.

Jetzt hat sich das Blatt gewendet, jetzt dürfen sie den berühmten Autor schelten, ihm alle möglichen Fehler vorwerfen, ihn öffentlich niedermachen. Und sie können das gefahrlos tun, weil in ihren Ländern, in Deutschland, England und anderswo, keiner das Geschriebene überprüfen kann. Die Biografie hat noch keiner gelesen, es ist alles aus zweiter, dritter Hand.

Domosławski hat einen Damm geöffnet, eine Lawine losgetreten. Da kommt noch einiges auf uns zu.

Vor einer Woche erhielt ich einen Anruf vom österreichischen Fernsehen, Abteilung Kultur. Eine freundliche Dame fragte, ob ich ein Interview geben wolle. Wegen der Kapuściński-Biografie. Wir einigten uns auf den nächsten Tag, das Team sollte in meine Wiener Wohnung kommen. Bevor sie sich verabschiedete, stellte die Dame noch eine Frage:

- Haben Sie das Buch? Sie wissen, im Fernsehen müssen wir etwas zeigen können, es geht um Bilder ...

- Das Buch habe ich nicht, nur eine PDF-Datei im Computer, nicht sehr telegen so was.

- Das macht nichts, dann kaufen wir das Buch auf dem Weg zu Ihnen in einer Buchhandlung und bringen es mit.

- Wo wollen Sie das kaufen? Das polnische Buch?

- Wieso das polnische? Natürlich die deutsche Ausgabe ...

- Welche deutsche Ausgabe? Wovon reden wir hier?

Die Dame wurde kleinlaut.

- Wollen Sie damit sagen, dass es noch keine deutsche Ausgabe gibt?

Ich erklärte ihr, dass die polnische Ausgabe vor wenigen Tagen erschienen war, von einer deutschen Übersetzung kann keine Rede sein.

- Oh!

Konsternierung. Das Interview war hinfällig. Irgendwie klang die Dame leicht gekränkt, als wäre es meine Schuld, dass die deutsche Ausgabe nicht längst in den Buchhandlungen liegt.

Diese kleine Episode zeigt, wie es um den Wissensstand im Ausland bestellt ist. Natürlich sind die Österreicher besonders oberflächlich und schlampig, in Deutschland oder England könnte so was nie passieren. Oder doch? (Martin Pollack/DER STANDARD, Album, 13./14.3.2010)