Andrea Lehner-Hartmann ist Theologin an der Uni Wien. Derzeit hält sie ein Seminar über "Mädchen und Buben als Opfer sexueller Gewalt".

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Die Bischöfe sollen den Opfern selbst zuhören, so die Theologin im Gespräch mit Tobias Müller.

Standard: Sie arbeiten mit künftigen Religionslehrern und auch Priestern. Was bringen Sie Ihnen über Missbrauch bei?

Lehner-Hartmann: Eine Sensibilisierung für die Perspektive der Opfer, aber auch die der Täter, um die Dynamik von sexueller Gewalt zu erkennen. Priester und Lehrer müssen damit rechnen, mit Opfern und Tätern zu tun zu haben. Wenn sie über Vergebung und Versöhnung reden, müssen sie wissen, was das bedeutet. Viele Opfer glauben, Versöhnung würde ihnen helfen, aber das stimmt nicht. Sie hilft höchstens dem Täter. Der denkt dann, es ist vorbei, und ändert sein Verhalten nicht. Dann geht das Ganze von vorne los, weil es ja meist Wiederholungstäter sind.

Standard: Was kann in der Ausbildung getan werden, um späteren Missbrauch zu verhindern?

Lehner-Hartmann: Derzeit sind Schulungen dazu nicht verpflichtend. Das Thema muss aber strukturell in der Ausbildung verankert werden, etwa im Pastoraljahr. Und damit meine ich nicht nur einen Vortrag, sondern Training. Priester und Lehrer müssen lernen vorzubeugen und zu intervenieren. Und zwar nicht nur die künftigen, sondern auch die, die jetzt im Amt sind. Es braucht ein Nachqualifizierung von Pädagogen und Geistlichen.

Standard: Können Aufnahmetests im Priesterseminar helfen?

Lehner-Hartmann: Manifeste Pädophilie lässt sich vielleicht erkennen, aber sexuelle Gewalt ist sehr vielschichtig. Die Täterkategorien sind nicht eindeutig zuordenbar. Ich glaube nicht, dass sich Missbrauch völlig verhindern lässt. Deswegen brauchen wir eine Strategie, um früh aufmerksam zu werden und handeln zu können.

Standard: Die da wäre?

Lehner-Hartmann: Hier sind die Bischöfe gefordert. Sie müssen ganz klare Richtlinien erlassen: Wenn so etwas passiert, was dann? Wie gehen wir mit den Tätern um, wie mit den Opfern? Und diese Richtlinien müssen verbreitet, durchgesetzt und kontrolliert werden. Das Gleiche gilt für die Schulen, auch die haben solche Richtlinien oft nicht. Außerdem müssen die Bischöfe selber den Opfern zuhören, nicht nur die Ombudsstellen. Wer selber zuhört, hat ein ganz anderes Verständnis für die Opfer.

Standard: Die Fälle, von denen wir jetzt hören, liegen meist 20 Jahre zurück. Hat sich etwas geändert?

Lehner-Hartmann: Das ist ein Teil der Opferdynamik, dass man lange nicht darüber sprechen kann. Ich sehe noch nicht den neuen gesellschaftlichen Zugang, der sagt: Es wird sofort gehandelt. Weder in der Kirche, noch außerhalb. (Tobias Müller, DER STANDARD – Printausgabe, 12. März 2010)