Wien - Die Wiener Sängerknaben gelten als die "jüngsten Botschafter Wiens", ihre glockenhellen Stimmen begeistern Musikliebhaber in aller Welt. Doch laut Aussagen von zwei ehemaligen Internatszöglingen, die sich seit Beginn der neuerlichen Diskussionen um Missbrauch in Klöstern und Schulen an den STANDARD gewandt haben, liegt diesbezüglich auch bei dem Wiener Eliteknabenchor einiges im Dunkeln. 

In den 1960er- und 1980er-Jahren habe im Wiener Augartenpalais - dem Stammhaus des1924 gegründeten Chors, dessen Traditionen bis zum Jahr 1498 zurückgehen - ein "Terrorregime" bestanden. Dort sowie auf Tourneen sei es zu sexuellen und gewalttätigen Übergriffen auf Neun- bis 14-Jährige gekommen, erinnern sich die beiden Männer unabhängig voneinander. Die Täter: meist Erzieher - bei den Sängerknaben "Präfekten" genannt - sowie ältere Schüler, die den herrschenden Drill und Druck auf jüngere Kollegen - die sogenannten "Eleven" - weitergegeben hätten. 

"Nach dem wöchentlichen Schwimmen im schuleigenen Hallenbad mussten wir zu je fünft unter die Duschen. Sichtschutz gab es nicht. Die Präfekten standen dicht neben uns. Sie gaben Kommentare ab und forderten uns auf, beim Waschen unserer Genitalien gründlich zu sein", schildert ein heute 33-Jähriger (Name der Redaktion bekannt). 

Zwang zu Sex auf Tournee

Von 1985 bis 1987 sang der Wiener, der heute in Berlin als orthopädischer Chirurg arbeitet, im Bruckner-Chor: einem der vier Kinderchöre der Wiener Sängerknaben, die jährlich rund 600 Auftritte bestreiten. Auf Tourneen sei es "üblich gewesen, dass sich ältere Buben einen Eleven als Zimmergenossen aussuchen konnten". So sei er, mit zehn Jahren in den USA, zu einem Mitschüler gelegt worden, "der mich gezwungen hat, ihn händisch und oral zu befriedigen", erzählt er. 

"Er sagte, ich dürfte niemandem etwas verraten. Ich hätte ohnehin nicht im Traum daran gedacht. Ich hatte Angst", erinnert sich der Arzt heute. Den Chor verließ er, weil er nach der "demütigenden Szene" monatelang fast keinen Bissen herunterbekam und extrem abmagerte: "Ich war wirklich nicht der Einzige. Jetzt würde ich mir Wiedergutmachung wünschen, etwa indem Psychotherapien bezahlt werden."

Von "gnadenloser Disziplin" sowie "körperlichen und sexuellen Übergriffen" berichtet auch ein heute 51-jähriger Mann, der von 1966 bis 1970 Mitglied des Haydn-Chors war. Auf einer Busfahrt durch Deutschland habe sich "ein Erzieher neben mich gesetzt und seine Hand eine Stunde lang auf meinen Schenkel gelegt", erzählt der in München lebende Psychologe. Nach einem Abendessen auf US-Tournee habe er miterlebt, wie einem Schüler, der nicht gegessen hatte, von einem Präfekten der Mund aufgehalten und ihm Essen hineingestopft worden sei.

In Reaktion auf die Vorhaltungen zeigt man sich bei den Sängerknaben auskunftsbereit. Man werde den Vorwürfen unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen nach Vorlegen konkreter Informationen gründlich nachgehen, ließ Pressesprecherin Anna Weingant wissen. Gerüchte über Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe bei den Sängerknaben hatte es schon Ende der 80er-Jahre gegeben. Ende der 90er-Jahre folgten Medienberichte, aber keine breite Diskussion. 1997 wurde Chorleiter, Walter Tautschnig junior, abgelöst - aus künstlerischen Gründen. Es kam zu pädagogischen Änderungen. (Irene Brickner, DER STANDARD - Printausgabe, 12. März 2010)