Das Konzept des Bakkalaureats in Österreich wird sowohl von den Studierenden als auch von den Hochschullehrern als Hirngespinst betrachtet. Das Bakkalaureat ist aber im angloamerikanischen System der Grundstein der Hochschulbildung. Woher kommt diese Diskrepanz? Da ich mein Bakkalaureat und Doktorat in England erworben habe und seit 1982 in Wien lebe, kenne ich beide Systeme recht gut. Mir ist ein beachtlicher Unterschied aufgefallen, der meiner Erfahrung nach darin gründet, dass in Österreich der Sinn des Bakkalaureats verkannt wird. Das Bakkalaureat wird als "Magister Light" betrachtet, mit dem Ergebnis, dass zu viel Information und zu viele Fakten vermitteln werden.

Was sind die Gründe für dieses Bedürfnis, eine Fülle an Fakten übertragen zu wollen? Da es in Österreich (noch) keine zentrale Matura gibt, müssen die Studierenden zuerst an den Universitäten auf das gleiche Niveau gebracht werden. Darüber hinaus gibt es von den Universitäten keine Festsetzung, welches Wissen die Studierenden von der Schule mitbringen sollen. Abgesehen von der Medizin können sie jedes beliebige Fach studieren, unabhängig davon in welchem Fach sie maturiert haben. Somit müssen die Universitätslehrer Lernstoff aus der Mittelschule wiederholen, um allen Studierenden die gleiche Basis für das weitere Studium zu vermitteln.

Wenn die Zeit nicht ausreicht, das Fach komplett abzudecken, welchen Sinn und Zweck hat dann das Bakkalaureat? Meines Erachtens soll zuerst vermittelt werden, mit welchen Grundgedanken und Prinzipien man Fragen auf dem Gebiet lösen kann und welche Fragestellungen zur Zeit in dem Fach anstehen. Ein solches Unterrichten von Lösungsansätzen und zukunftsweisenden Fragestellungen dient auch Studierenden, die die Universität nach dem Bakkalaureat verlassen und das Fachwissen nicht weiter beanspruchen. Solche Absolventen haben eine Bildung bekommen, die Ihrer persönlichen Entwicklung dient und sie befähigt, komplexe Herausforderungen zu verstehen und Lösungen dafür vorzuschlagen.

In angelsächsischen Ländern verlassen die meisten Studierenden die Universität nach dem Bakkalaureat, eine Tatsache, die den hohen Stellenwert des Bakkalaureats in diesen Ländern veranschaulicht. Zum Beispiel haben sich nur fünf der 50 Kollegen und Kolleginnen, die mit mir Biochemie in Liverpool studiert haben, für ein Doktoratsstudium angemeldet. Die meisten Anderen haben gute Stellen in mit Biochemie nicht verwandten Branchen bekommen.

Zusätzlich zum Vermitteln von Grundgedanken kann das Bakkalaureat idealerweise auch den Universitätslehrern ermöglichen, Begeisterung für ein Fach und für ihre Forschung zu vermitteln: Was sind die großen Unbekannten? Was wird die nächste Entdeckung sein? Was sind zur Zeit die Grenzen des Gebiets? Aus meiner Sicht sind Antworten auf diese Fragen das Wichtigste, das man vermitteln kann. Sie unterscheiden eine universitäre Bildung von einer Ausbildung an einer Fachhochschule. Die Studierenden können sich das bekannte Wissen selbst aneignen. Sie brauchen aber inspirierte Lehrkräfte, die Ihnen vermitteln können, was noch zu entdecken ist. In meinem Studium in England wurden die Grenzen des aktuellen Wissens im dritten Studienjahr über vier Monate vermittelt. Täglich um 9.00 Uhr lasen einige Tage hintereinander "faculty members" eine Stunde lang über ihr oder sein Fach vor. Diese Stunden waren die aufregendsten in meiner wissenschaftlichen Laufbahn, sie haben mich inspiriert und so begeistert, dass ich mit Freude in der Wissenschaft geblieben bin. (DER STANDARD-Printausgabe, 10.3.2010)