Claudia Wild / Brigitte Piso: "Zahlenspiele in der Medizin. Eine Kritische Analyse". Verlag Kremayr & Scheriau. Wien 2010. 223 Seiten, 19,90 €.

Am Dienstag, dem 9. März, findet um 18.30 die Buchpräsentation mit anschließender Podiumsdiskussion im Presseclub Concordia (1010, Bankgasse 8) statt. Eintritt frei

Foto: Wild/Piso/Zahlenspiele

Standard: Sie lösen durch Ihre pharmakritische Arbeit im Rahmen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Health Technology Assessment (LBI-HTA) oft Debatten aus. Wie sehen Sie Ihre Rolle?

Wild: Wir sind Wissenschafter und arbeiten mit wissenschaftlichen Instrumenten. Health Technology Assessment ist eine weltweit anerkannte Methode zur systematischen Bewertung medizinischer Technologien. Untersucht werden Wirksamkeit, Sicherheit und Kosten unter Berücksichtigung von sozialer, rechtlicher und ethischer Aspekte. Wenn wir eine Arbeit veröffentlichen, dann stellen wir uns immer der Diskussion, wir haben in Österreich aber keine Diskussionskultur.

Standard: In Ihrem eben erscheinenden Buch "Zahlenspiele" geht es um Schweinegrippe, Krebs, Vorsorge und die HPV-Impfung. Wie kam es zu dieser Themenvielfalt?

Wild: Es sind Themen, mit denen wir uns am LBI-HTA beschäftigt haben. Die Idee dieses Buches ist, zu zeigen, wie Zahlen in der Medizin für verschiedene Interessen ge- und missbraucht werden können. Medizin wird von der öffentlichen Hand finanziert. Das Gesundheitssystem darf kein Selbstbedienungsladen werden. Wir sammeln Fakten und schaffen Grundlagen für politische Entscheidungen, außer HTA gibt es keine evaluierende Forschung, hinter der keine Lobby steht.

Standard: Warum spielt Statistik in der Medizin eine so große Rolle?

Wild: Weil Statistik ein wichtiger Teil im Zulassungsprozess und auch im Marketing geworden ist. Die Argumentation ist immer dieselbe. Zunächst wird ein Gesundheitsproblem umrissen, um Angst zu machen, zum Beispiel "jeder zweite Krebstodesfall unter Frauen ist durch Gebärmutterhalskrebs verursacht". Dann werden Maßnahmen dagegen vorgestellt, etwa Medikamente oder Impfungen, die diese erschreckende Anzahl zum Beispiel sogar zu 70 oder 100 Prozent ausrotten. Das klingt revolutionär, wenn die Basis, von der ausgegangen wird, nicht hinterfragt wird. Dann sind wir schon mitten in den Zahlenspielen, denn Zahlen lassen sich aus verschiedenen Gesichtspunkten heraus interpretieren. Etwa dann, wenn man die Weltbevölkerung als Berechnungsgrundlage für die Todesursache Gerbärmutterhalskrebs herangezogen wird. Die Zahlen sind nicht falsch, aber verfälscht, weil ohne Kontext. Konkret: Gebärmutterhalskrebs als Todesursache liegt in Österreich an neunter Stelle.

Standard: Haben Sie noch Beispiele?

Wild: Bei Brustkrebs gab es viel Marketing um Herceptin, einer sogenannten zielgerichteten Therapie. Das ist ein sehr suggestiver Begriff. Wir haben die Daten näher angeschaut. Von 3400 Frauen in der Zulassungsstudie starben nach einem Jahr 2,2 Prozent ohne Herceptin an Brustkrebs und 1,7 Prozent, obwohl sie Herceptin erhalten haben. Die in der Presse gemeldeten 33 Prozent Reduktion der Mortalität errechnen sich aus dem relativen Unterschied zwischen 1,7 und 2,2 Prozent. Man könnte auch 0,5 Prozent sagen, aber das klingt weniger gut. Konkret heißt das: Es müssen 200 Frauen mit Herceptin behandelt werden, um innerhalb eines Jahres eine einzige Frau zu retten. Nach einem Beobachtungszeitraum von zwei Jahren sind es 55 Frauen, die mit Herceptin behandelt werden müssen, um einer das Leben zu retten. Das wird aber als die Hoffnung zielgerichteter Therapie verkauft. Dabei wird nirgendwo von den Nebenwirkungen gesprochen, die diese Medikamente mit sich bringen, etwa schwere Herzprobleme. Ich empfinde es als würdelos, Patientinnen falsche Hoffnungen zu machen.

Standard: Das LBI-HTA liefert die Grundlage für Kosten-Nutzen-Rechnungen. Eine undankbare Aufgabe in der Medizin, oder?

Wild: Sehe ich nicht, denn wir haben eine klare Position. Zuerst ermitteln wir immer die Wirksamkeit eines Medikaments oder eines Eingriffs. Wenn es darum geht, dass ein Krebsmedikament bei Patienten im Endstadium nur 24 Tage mehr Lebenszeit bringt, dann sollte das der Patient unabhängig von den Kosten wissen. Die Wahrheit ist doch eine Frage von Anstand und Würde. Das Marketing von Medikamenten suggeriert aber permanenten Fortschritt.

Standard: Sind Sie Aufdeckerin?

Wild: HTA ist eine objektive Methode, die durchaus auch positive Bewertungen bringen kann. Die Projekte, die auf unseren Schreibtischen landen, sind Probleme, wo etwas hinterfragt wird, weil Kosten und Nutzen im Ungleichgewicht sind. In England wird HTA wesentlich systematischer eingesetzt und ist dadurch auch weniger umstritten. Durch die Auswahl der Fragestellungen sind wir in den Verruf gekommen, Neues zu blockieren. Das tun wir aber nicht aus Prinzip.

Standard: Wie ließe sich das verbessern?

Wild: Das Ministerium lässt derzeit ein Konzept für systematische Evaluation vor großen Investitionentscheidungen ausarbeiten.

Standard: Wo sind Ihre Grenzen als Nichtmedizinerin?

Wild: Ein Vorwurf, den mir Ärzte oft machen. Mein einziges Manko: Ich habe keine Patientenkontakte. Das hat Vorteile: Ich sehe Probleme aus der Vogelperspektive, bin nicht Teil des Systems. Zudem arbeite ich mit einem Team aus Medizinern, Fachexperten und Sozialwissenschaftern. Wir fühlen uns der Objektivität verpflichtet.

Standard: Aber einfache Antworten gibt es im Buch nicht ...

Wild: Würde ich nicht so sehen. Es kann keine einfachen Antworten geben, weil Medizin heute nicht einfach ist. Das Buch kann allen, die kritisch mit Medizin-Marketing umgehen wollen, die Augen öffnen. Das Infragestellen ist in der Medizin genauso wichtig, das passiert aber viel zu wenig. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 8.3.2010)

ZUR PERSON:

Claudia Wild (50) ist Kommunikationswissenschafterin, habilitierte sich in Sozialmedizin und ist Direktorin des LBI-HTA in Wien.