Schüchti hatte ihn wenige Tage später zum Frühstück ins Hansen eingeladen - damals noch eine gute Adresse für verschwiegene Zusammentreffen. Das Lokal im Untergeschoß der Börse war zwar zu Mittag und am Abend immer gedroschen voll. Aber in der Früh ging es geruhsam zu. Man konnte in verschwiegenen Winkeln ganze Tischgruppen für sich alleine beanspruchen - und obendrein eine außergewöhnliche Qualität genießen, die es zu einem der besten Frühstücksorte der Stadt machte.
Morgens die klassizistische Marmorstiege in das dunklere Untergeschoß zu spazieren, hatte trotz des Prunks freilich etwas Bedrückendes. Und dass man quasi durch die Küche, nur durch eine mannshohe Glasplatte von den Herden getrennt, ins Lokal schlüpfen musste, hatte fast etwas Mensaartiges. Aber dann erschloss sich ein durch Glaskuppeln unerwartet hell erleuchteter Keller, den wegen der offen angrenzenden Blumenhandlung, die ebenfalls auf dieser Etage untergebracht war, ein feiner Palmenhausduft durchzog. Mit leicht überhöhter Luftfeuchtigkeit. Weiße lange Tischwäsche und die hellen Korbstühle sorgten für Behaglichkeit.
Kranzel fühlte sich an Orten wie diesen immer ein wenig underdressed. Tagaus, tagein trug er abgewetzte Jeans, weite Hemden und darüber eines seiner drei übergroßen Sakkos, die er von seinem Großvater geerbt hatte. Das war praktisch und passte zu fast jeder Gelegenheit. Und es vertrug sich gut mit dem Dreitagebart, ebenfalls eine bequeme Einrichtung. Schon zu Studienzeiten war er so herumgelaufen. Damals hatte er noch ein Palästinensertuch dazu getragen. Teils um ein bisschen auf Revoluzzer zu machen, was er im Grunde seines Herzens nie war, teils weil es in seinem Freundeskreis modern gewesen war, teils weil ihm das große Tuch tatsächlich ein bisschen das Gefühl gegeben hatte, er gehe mit gepanzerter Brust. Dahinter hatte er das zartbesaitete katholische Landkind verborgen.
Beim beruflichen Einstieg in die Zeitung hatte er nur das Tuch weggelassen. Damit war er unauffällig in das Sammelsurium der Redaktion eingegliedert. Nicht auf betont wichtig, wie einige aus der Wirtschaft, die in Maßanzügen daherkamen, nicht so exzentrisch wie manche in der Kultur, die auch im Winter mit Flip-Flops herumliefen, und jedenfalls so korrekt, dass er keinen Gesprächsstoff für die besonders Emanzipierten abgab.
Vielleicht war es aber nun doch irgendwann Zeit, an Seriosität zuzulegen. "Bin ich wirklich schon so alt?" , fuhr es Norbert durch den Kopf.
Die Karte war etwas für den wählerischen Magen. Wo bekommt man schon die Eierspeis - die erfreulicherweise hier nicht, wie anderswo in der oft zu wenig selbstbewussten Stadt, Rührei hieß - mit Grana und getrockneten Paradeisern, die, so der einzige Fehltritt auf der Karte, als Tomaten bezeichnet wurden. Norbert musste zuschlagen. Und den Caffè Latte im schönen hohen Glas gleich dazubestellen. Schüchti nahm die Früchte mit Joghurt und beantwortete Norbert damit gleich die Frage, ob er wirklich weniger Gewicht als damals zur Matura hatte und warum die Haut leicht bioledern aussah. Schüchti war nüchtern im wahrsten Sinn des Wortes, wiederholte trocken die Geschichte, besonders konzentriert, präzise in der Chronologie, technisch, ohne Emotion in der Beschreibung der grausigen Details. Noch ausführlicher. Es sei Zeit, an die Öffentlichkeit zu gehen. Darum gebe er Norbert die ganze Story. Norbert brauchte nicht viel nachzufragen. Sein Stift raste über seine Notizblätter. Er hörte, dass Schüchtis Stimme immer noch ein wenig bebte, als er berichtete, wie Kummermund zum ersten Mal die Grenzen überschritten, wie er ihn bei der Beichte auf seinen Schoß gezogen und umarmt hatte, Zungenkuss inklusive. "Auf meine Frage, was er da tue, meinte er nur, er verehre den Geist Gottes, der in mir wohne ..."
Schüchti schilderte seine Verwirrung, hin und her gerissen zwischen dem Ekel vor dem Übergriff und dem Stolz, von diesem Gottesmann auserwählt worden zu sein. Minutiös stellte er dar, wie sich die Intimität von Beichte zu Beichte aufbaute. "Als ich ihm schließlich meine erste Selbstbefriedigung beichtete, zog er meine Hand auf seinen Penis und sagte: ‚Du musst genau zeigen, wie du es gemacht hast, sonst kann ich dich nicht lossprechen.‘ Das nächste Mal griff er bei mir zu und meinte, er gebe mir die Entspannung, die ich mir nicht selber geben dürfe. Du kannst dir vorstellen, dass ich nach der Matura viele Jahre gebraucht habe, um einen unverkrampften Zugang zu meiner eigenen Sexualität zu finden."
"Warum kommst du mit der Geschichte erst jetzt?"
"Ich habe lange gerungen. In Wahrheit habe ich bis heute gebraucht, um das Ganze zu verarbeiten. Nicht einmal meine Frau kennt das ganze Ausmaß der Ereignisse. Ich glaube, ich bin darüber hinweg. Was mich aber immer noch quält, sind Schuldgefühle, dass ich so lange geschwiegen habe. Dass ich durch mein Schweigen daran schuld bin, dass es noch viele Opfer gegeben hat. Und dass viele davon heute noch vor dem Scherbenhaufen ihrer Gefühle stehen. Es ist noch nicht zu spät, dass diese Wunden geheilt werden."
"Ich werde mit dem Chefredakteur reden. Die Geschichte ist heiß. Ich brauche dich aber als Kronzeugen. Mit wörtlichen Zitaten. Mit vollem Namen."
"Das kannst du haben."
"Wieso schreibst du es nicht selber, bei der Konkurrenz."
"Selber geht nicht, das wäre zu wenig objektiv. Und mein Chefredakteur und Herausgeber hat eine Beißhemmung gegen die Kirche."
"Ist bei unseren Eigentümern auch nicht leicht."
"Ja, aber ihr habt eine einigermaßen funktionierende unabhängige Redaktion. Unser Chef schreibt sich sogar die Leserbriefe selbst."
"Warum nicht zum Tagblatt?"
"Weil ich dir vertraue, dass du damit sorgsam umgehst. Und weil du die Kirche besser von innen kennst als alle anderen Schreiberlinge."
"Ich tue mein Bestes."
Beim Abgang konnte Norbert nicht widerstehen, ein paar Blumen aus dem angrenzenden Geschäft für Ruth mitzunehmen. Faustgroße Rosenblüten gibt es nicht überall. Diese Preise auch nicht.
(Wolfgang Bergmann, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 06./07.03.2010)