Die nicht abreißenden Berichte über sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen stimmen traurig. Abgesehen von dem unsäglichen Leid für die Opfer fügen sie der Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche nicht wiedergutzumachenden Schaden zu. Eine kleine Begebenheit, die ich erlebt habe, mag dies illustrieren. Als einer meiner Mitbrüder einmal die Kirchentür abends zusperrte, kam ein Ehepaar mit Kind des Weges. Das Kind schaute meinen Mitbruder groß an und fragte die Eltern: "Wer ist das?" Darauf die Mama: "Das sind Männer, die kleine Kinder missbrauchen. Von denen musst du dich fernhalten!"

Als Priester oder Ordensmann ist man heute einem Generalverdacht ausgesetzt. Damit muss man sich abfinden. Zugleich gilt es zu fragen, inwieweit die verbreitete Mutmaßung, dass katholische Geistliche in erhöhtem Maße gefährdet seien, sich an Kindern und Jugendlichen zu vergehen, überhaupt richtig ist.

Will man sich nicht in unergiebigen Spekulationen verlieren, tut man gut, einschlägige Zahlen zurate ziehen. Univ.-Prof. Hans-Ludwig Kröber, Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Charité Berlin, gilt als einer der führenden Experten in Sachen Kindesmissbrauch und Kirche. Er stellte die etwa 210.000 seit 1995 in Deutschland polizeilich erfassten Fälle von Kindesmissbrauch der vom Nachrichtenmagazin Spiegel Anfang Februar ermittelten Anzahl von 94 Verdachtsfällen innerhalb der Kirche gegenüber. Der Kriminalpsychologe kam zum Ergebnis, dass sich in Deutschland katholische Geistliche statistisch seit 1995 deutlich seltener an Kindern und Jugendlichen vergingen als nicht zölibatär lebende Männer (seiner Berechnung zufolge 36-mal so selten). Der oft vermutete Zusammenhang zwischen Zölibat und Missbrauch wird durch die vorliegenden Zahlen also nicht gestützt. Im Gegenteil.

Wenn in der Öffentlichkeit dennoch ein anderes Bild entsteht, dann mag dies damit zusammenhängen, dass jeder einzelne Missbrauchsfall durch einen Geistlichen ein breites mediales Echo erfährt. Die unheilige Trias von Zölibat, Sexualität und Kindesmissbrauch bietet stets Stoff für einen kleinen Krimi.

Freilich bleibt es dabei: Jeder einzelne Missbrauchsfall ist einer zu viel (und wird durch den Blick auf die Statistik keineswegs entschuldigt). Die Verantwortlichen in der Kirche müssen sich ernsthaft fragen, welche Präventionsmaßnahmen ergriffen werden können, um sexuellen Missbrauch in der Kirche künftig weitestgehend zu minimieren. Wie sich gezeigt hat, ist immer damit zu rechnen, dass psychosexuell unreife oder gestörte Menschen, sich von der zölibatären Lebensform angesprochen fühlen können. Daher bedarf es künftig größtmöglicher Professionalität bei der Auswahl der Priester- und Ordensbewerber.

Mein vorläufiges Fazit: Das Problem des sexuellen Missbrauchs dürfte nicht in erster Linie ein Problem der Kirche, sondern ein Problem der gesamten Gesellschaft sein. Soweit ich sehe, liegt die Aufarbeitung dieser dunklen und verstörenden Seite menschlicher Sexualität freilich erst in den Anfängen: sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche.

Man muss sich wohl drauf gefasst machen, dass noch einiges auf uns zukommt. (Dominikus Kraschl, DER STANDARD - Printausgabe, 5. März 2010)