Warum sprechen Leitartikler, Politologen und Zeithistoriker über die Gefahr von rechts und nicht von links? Mit dem Untergang der kommunistischen Systeme und des Ostblocks sind die linksextremen Tendenzen in Europa (freilich nicht in Lateinamerika), vor allem in Mittel- und Osteuropa völlig diskreditiert worden. Hierzulande und in der postkommunistischen Nachbarschaft, aber selbst in solchen Ländern wie den Niederlanden, Belgien und Dänemark geht es in erster Linie um eine Gefahr des Rechtsextremismus.

Die Zielscheiben und die Sündenböcke mögen unterschiedlich sein: hier die Muslime unterschiedlicher regionaler und ethnischer Herkunft, dort die Roma oder Angehörige nationaler Minderheiten, oft auch die Juden, die den Holocaust überlebt haben. Fremdenfeindlichkeit, Ausländerhass, Rassismus, Roma-Feindschaft und Antisemitismus gehen vielfach Hand in Hand mit dem Niedergang der politischen Kultur und immer öfter auch mit undifferenziertem Antiamerikanismus, gekoppelt mit der Kampagne gegen die Globalisierung.

Bedenkt man, dass in den Niederlanden die rechtspopulistische, ausländerfeindliche „Partei für die Freiheit" von Geert Wilders, dem radikalen Antiislamisten, mit einer Verdreifachung der Stimmen bei den Neuwahlen im Juni und die rechtsradikale, offen antisemitische und romafeindliche „Jobbik"-Partei mit 18 bis 20 Prozent bei den Aprilwahlen in Ungarn rechnet, dann kann man die rechte Gefahr nicht verniedlichen. In Österreich rechnet die FPÖ-Führung sogar damit, dass ihre Kandidatin bei der Bundespräsidentenwahl bis zu 35 Prozent der Stimmen erhalten könnte. In ihrer Kampagne gegen „die politische Klasse", die Zuwanderer, die EU, die Feministen usw. verkommt ihre fehlende eindeutige Distanzierung vom NS-Verbrechen (etwa die Klassifizierung des Leugnens der Gaskammern als „freie Meinungsäußerung") fast zu einer Randnotiz. So könnte ihr Abschneiden am 25. April tatsächlich (auch im Ausland!) als ein „Messinstrument für Rechtsextremismus" (Michael Fleischhacker in der Presse) dienen.

Angesichts der Auswirkungen der Finanzkrise, der wachsenden Arbeitslosigkeit, der verschärften sozialen Konflikte erleben wir von Amsterdam bis Budapest, von Mailand bis Wien, von Bratislava bis Zagreb immer häufiger eine Absage an die Werte des Humanismus, der Toleranz, der Offenheit, der Europäisierung des Geistes. Ersetzt werden diese Werte in Internetportalen, Massenblättern und TV-Sendungen durch Bekenntnisse zu diversen Spielarten der Blut-und-Boden-Ideologie, zu einem aggressiven Nationalismus gegen Minderheiten, zur demonstrativen Ausgrenzung Fremder.

Im Lichte der Erfahrungen bei den Jugoslawienkriegen, bei den Anschlägen gegen Asylanten-Heimen, bei den mörderischen Angriffen gegen die Roma gilt noch immer die fast vor einem Jahrhundert ausgesprochene Warnung des britischen Historikers Arnold Toynbee: „Niemand ist in der Lage zu garantieren, dass jedermann gegen jede Verführung gefeit ist. Unter bestimmten Voraussetzungen mag der Vulkan ausbrechen, selbst wenn sein Feuer so lange schlief, dass man es für erloschen hielt." (DER STANDARD Printausgabe, 4.3.2010)