Spaßfaktor in einem einfallslosen Film: Helena Bonham-Carter als rote Königin des "Unterlands"

Foto: Disney

Statt Unsinn und Anarchie bestimmen handelsübliche Attraktionen den Film.

Wien - Rechtzeitig zur allerneuesten "Alice im Wunderland" von Tim Burton hat das British Film Institute die allererste Verfilmung aus dem Jahr 1903 (Regie: Cecil Hepworth und Percy Stow) auf Youtube gestellt. Sie dauert nur knapp zehn Minuten (ursprünglich waren es zwölf), erzählt aber eigentlich schon alles, was für das Kino aus Lewis Carrolls irrwitzigem Kinderbuchklassiker zu holen ist. Natürlich sind das nicht die Sprachspiele, die Sinn und Unsinn verkehren, sondern die optischen Möglichkeiten: Alice, die entweder zu groß oder zu klein ist und auf eine Katze trifft, die geisterhaft entschweben (aber noch nicht grinsen) kann.

Mehr als hundert Jahre später fährt Tim Burton, der große Fantast des Mainstreamkinos, in seiner bei Disney realisierten Variante des Stoffes alle ihm zu Gebote stehenden künstlerischen Mittel auf und schafft ein lebloses Hybrid, das justament in den Momenten am überzeugendsten ist, wo es sich auf traditionelle visuelle Verschiebungen verlässt. Die neuartige Verschmelzung von Realfilm, Computeranimation und Motion-Capture wirkt hingegen mäßig überzeugend, das momentan unerlässliche 3-D bloß aufgepfropft (und unangenehm dunkel); auch die bei Burton sonst so reizvoll detailverliebte Ausstattung gerät zu üppig und verwandelt das Wunderland zum vollgestopften Wundertütenland. Imagination, um die es bei Carroll nicht unwesentlich geht, wird so eher erdrückt als beflügelt.

Alice für neuen Markt

Die von der Newcomerin Mia Wasikowska verkörperte Alice ist kein ganz kleines Mädchen mehr, sondern an der Schwelle zum Erwachsensein - eine markante Abweichung, mit der man offenbar den ergiebigeren Markt von Jugendlichen einbeziehen wollte. Um sich der Verlobung mit einem blaublütigen Langweiler zu entziehen, kehrt Alice in die "Unterwelt" zurück. Sie nimmt sie als einen Traum wahr, der ihr von fernen Kindheitstagen vertraut erscheint. Damit wäre sie eigentlich die prädestinierte Burton-Heldin - eine, die in ihrer Fantasie eine Heimstatt findet, die sie den Zurichtungen der Wirklichkeit vorzieht. Mit drolligen bis unheimlichen Freunden wie dem Hutmacher (Johnnie Depp), der wie der durchgeknallte Bruder von Ronald McDonald aussieht und von einer Nebenfigur bei Carroll nunmehr ins Zentrum rückt.

Doch der wahllose Rückgriff auf die Figuren verdankt sich anderem Kalkül: Die Disney-geeichte Drehbuchautorin Linda Woolverton ("König der Löwen", "Die Schöne und das Biest") packte das Personal in eine hundsgewöhnliche und entsprechend langatmige Märchenform um zwei verfeindete Königinnen - sowie Alice als Erlöserin, die ihre Rolle erst annehmen muss. Man wollte dem episodischen Charakter des Buches eine dramatischere Note verleihen; aber muss man dann Alice wie in einem x-beliebigen Fantasyfilm zur protofeministischen Jeanne d'Arc stilisieren, die sogar das einem Gedicht entstammende Monster Jabberwocky bezwingt?

Kaum verwunderlich, dass in diesem konventionellen Korsett anarchischer Nonsens und widersinniger Liebreiz nur selten aufblitzen. Der roten Königin (Helena Bonham-Carter), mit rübenhaftem Kopf und Geisha-Kussmund, gehören mit ihren "Kopf ab!" -Rufen und dem versklavten Tierpersonal die besten Momente. Auch ihre Gegenspielerin in Weiß (Anne Hathaway) betört mit ihrem Spleen. Doch solche Details retten keinen Film, der mit zu vielen äußerlichen Einfällen die große Einfallslosigkeit in seinem Inneren verbirgt. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.3.2010)