Hans Kelsen (2. v. re.) im Kreise seiner Kollegen im Verfassungsgerichtshof, in der Mitte Präsident Paul Vitorelli. 1930 wurden alle Höchstrichter abgesetzt.

Foto: Anne Feder Lee

Hans Kelsen im Arbeitszimmer, 1935 in Genf.

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Die Recherche für eine wissenschaftliche Biografie bringt neue Fakten zutage.

Er ist als Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung in die Geschichtsbücher eingegangen und wird von vielen als "Jurist des Jahrhunderts" verehrt. Aber in den wichtigsten Jahren seines Schaffens stand Hans Kelsen im Brennpunkt zahlreicher politischer Konflikte; in einem entscheidenden Moment wurde er von Österreich verstoßen und später nicht mehr zurückgeholt.

Was Kelsens Schicksal von dem anderer österreichischer Intellektueller jüdischer Herkunft unterscheidet, ist die Tatsache, dass sein Exil bereits 1930, also lange vor der NS-Machtergreifung und dem Anschluss, begann. Die heftigen Kontroversen in der Ersten Republik, die dem angesehenen Verfassungsrichter damals Amt und Heimat kosteten, stehen im Fokus der ersten umfassenden wissenschaftlichen Kelsen-Biografie, die derzeit der Wiener Rechtswissenschafter Thomas Olechowski verfasst. Als Teil dieses vom Wissenschaftsfonds FWF unterstützten Projekts fand im April 2009 eine Kelsen-Tagung statt, deren Ergebnisse vor kurzem in einem Band zusammengefasst wurden

Die Grundzüge von Kelsens abenteuerlichem Leben sind bekannt, bei den Details aber stößt Olechowski bei seinen Recherchen auf viele neue Erkenntnisse. Kelsens Vertreibung aus Wien war eine "eigenartige Mischung aus fachlichen Differenzen und Antisemitismus", sagt er im Standard-Gespräch. Seine reine Rechtslehre sei an der Universität Wien höchst umstritten gewesen, weil sie den Staat mit der jeweiligen Rechtsordnung gleichsetzte und keinen Platz für Religion, Moral und nationale Gefühle ließ. In Form eines verklausulierten Antisemitismus hätten andere Professoren "den Zustand der Fakultät" beklagt und damit den getauften Juden Kelsen gemeint.

Eine Reihe familienrechtlicher Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes sorgen Ende der Zwanzigerjahre für den politischen Eklat. Das katholische Österreich kannte keine Scheidung, aber einige SP-Landeshauptleute erlaubten die Wiederverheiratung nach einer Trennung. Unter Kelsens Führung wurden diese "Dispensehen" für verfassungskonform erklärt. Kirche und Christlich-Soziale zetteln daraufhin einen Sturm an, Kelsen und Kollegen wird Nihilismus und Vielweiberei vorgeworfen. Ein spezielles Verfassungsgesetz setzt alle auf Lebenszeit ernannten Richter ab. Die Wiederernennung durch die Sozialdemokraten allein lehnte der 1919 noch mit den Stimmen aller Parteien Gewählte ab, sagt Olechowski. Er sei den Sozialdemokraten zwar nahegestanden, aber wollte kein Parteisoldat sein.

Wien, Köln, Prag, Genf

Stattdessen geht Kelsen auf Drängen des Oberbürgermeisters Konrad Adenauer als Professor für Völkerrecht nach Köln. Als er 1933 auch diesen Posten verliert, nimmt ihn die Universität Wien nicht mehr auf.

Kelsen pendelt zwischen Genf und Prag, wo seine Berufung an die Deutsche Universität durch die Regierung gewalttätige Proteste der NS-nahen Sudetendeutschen auslöst. "Es kam zum offenen Kampf zwischen Nationalen und Gemäßigten, die Universität wurde geschlossen, im Hörsaal mussten zwei Kriminalbeamte stehen", erzählt Olechowski.

Nach nur drei Semestern gibt es für Kelsen auch in Prag kein Bleiben. In Genf leidet er unter Geldsorgen und kämpft vergeblich um seine Pensionsansprüche aus Köln, 1940 flüchtet er in die USA, wo er zunächst in Harvard ein Ehrendoktorat, aber keine feste Anstellung erhält. 1942 geht Kelsen an die Universität Berkeley, wo er 1945 eine ordentliche Professur erhält und bis zur Emeritierung 1957 lehrt. In Köln wird Kelsen nach 1945 rehabilitiert und erhält nun endlich die Pension, die ihm einen besseren Lebensstandard ermöglicht. Obwohl Kelsen die US-Staatsbürgerschaft erwirbt und auf Englisch publiziert, bleibt er der amerikanischen Rechtswissenschaft fremd. Seine Fakultät wird die Politikwissenschaft.

In Österreich wird Kelsen nach 1945 mit Ehrungen überhäuft und in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Eine Rückkehr nach Wien kommt allerdings nicht zustande – warum, ist sich Olechowski nicht ganz sicher. Aber Kelsens einstiger Kreis war in alle Winde zerstreut, seine reine Rechtslehre an der Wiener Uni so gut wie vergessen. Stattdessen dominierte die Suche nach Werten, die für Kelsen in der Rechtswissenschaft keine Rolle spielen dürfen. Bis zu seinem Tod mit 91 Jahren im April 1973 lebt er in Kalifornien.

Komplexes Vermächtnis

Olechowski hält Kelsens wissenschaftliches Vermächtnis für weitaus komplexer als oft dargestellt. In seinem langen Leben habe er sich weiterentwickelt und dadurch auch in wichtigen Punkten – etwa bei der Frage, ob sich rechtliche Normen logisch ableiten lassen oder nicht – widersprochen. "Es gibt nicht nur einen Kelsen", sagt Olechowski.

Seine Bedeutung für die Bundesverfassung werde überschätzt, denn diese habe er zwar juristisch ausformuliert, aber politisch nur wenig mitgestaltet. Das war ganz im Sinne von Kelsens Überzeugung, dass demokratische Entscheidungen, wie immer sie auch zustande kommen, legitim sind. Dies könne dazu führen, dass sich die Demokratie selbst außer Kraft setzt, betonte Kelsen, was ihm angesichts der Ereignisse der Dreißigerjahre manche zum Vorwurf machen. "Die Demokratie ist die Staatsform, in der niemand die Wahrheit für sich gepachtet hat, sie kann auch irren," beschreibt Olechowski Kelsens Credo. Dieser sei auch ein unbedingter Anhänger des Verhältniswahlrechts gewesen und habe jede Form des Persönlichkeitswahlrechts abgelehnt. Das Parlament sollte die Gesellschaft präzise widerspiegeln.

Keine Gefühle im Recht

Kelsens wissenschaftliche Hauptanliegen war die Methodenreinheit, die keine Vermischung von Gefühlen mit juristischen Fragen zulässt. Sein Glaube an eine hierarchische Rechtsordnung bekräftigt das Legalitätsprinzip, das verhindern will, dass Verordnungen Gesetzesbestimmungen aufheben oder Gesetze der Verfassung widersprechen.

Daraus folgte auch sein Eintreten für einen mächtigen Verfassungsgerichtshof als "negativer Gesetzgeber", der Gesetze aufheben kann, wenn sie gegen die Verfassung verstoßen. Was damals revolutionär war und in vielen Demokratien mit Skepsis aufgenommen wurde, ist heute weltweit akzeptiert, sagt Olechowski.

Das Hierachieprinzip hat Kelsen auch zu einem großen Advokaten des Völkerrechts gemacht, das seiner Meinung nach über dem nationalen Recht stehen soll. Aus diesem Grund, glaubt Olechowski, wäre Kelsen heute ein Anhänger der europäischen Integration und würde das Primat des Gemeinschaftsrechts akzeptieren. (Eric Frey/DER STANDARD, Printausgabe, 03.03.2010)