US-Schriftsteller Don DeLillo hat mit "Der Omega-Punkt" einen knappen, aber sehr konzisen Roman um die vertrackten Ideen eines alten amerikanischen Kriegsstrategen geschrieben.

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Wien - Die Idee ist ganz konkret. Ein junger Filmemacher namens Jim Finley möchte sein nächstes Projekt über den 73-jährigen Richard Elster machen, einen neokonservativen Kriegsstrategen, ein Falke im Stile von Karl Rove, der für die US-Regierung gearbeitet hat und an der Planung der Invasion in den Irak mitbeteiligt war. Finley will ihn an die Wand stellen und in einer einzigen Nahaufnahme über sein Arbeit, seine Überzeugungen sprechen lassen. Die Wand hat er schon gefunden, nun muss er nur noch Elster überreden, in dem Film mitzumachen.

Wer sich von Don DeLillos neuem Roman Der Omega-Punkt (erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) bei dieser Thematik eine Auseinandersetzung mit dem Amerikabild vor dem Wechsel zu Obama erwartet, wird allerdings eines Besseren belehrt. Denn anstatt zwei Vertreter unterschiedlicher Generationen und Auffassungen in einen Dialog zu verwickeln, um politische Haltungen zu resümieren, gefällt sich das mit 110 Seiten zwar schmale, aber ungemein verdichtete Buch in einer Art Verweigerungshaltung: Finley wird von Elster zwar in dessen Haus in der kalifornischen Wüste eingeladen, die beiden finden auch zu einem Gespräch, doch DeLillo geht es um nichts so Offensichtliches wie Realpolitik und ihre Folgen.

Die Wüste dient hier als Resonanzraum. Ein Ort des Rückzugs und der Kontemplation, an dem sich Elster von den Zerstreuungen des Alltags erholen - und mehr noch allen gewöhnlichen Zeit- und Raumerfahrungen entwöhnen will. Seinem Besucher gibt er in kontrollierten Dosierungen Einblick in seine Denkgebäude. Hin und wieder hört sich das nach den Stehsätzen eines Republikaners an ("Ich will immer noch einen Krieg. Eine Großmacht muss handeln. Wir wurden schwer getroffen." ), viel öfter aber bewegt er sich in philosophische Sphären.

Suche nach Transzendenz

Ein inkriminierter Text Elsters, der ihn allerdings fürs Pentagon empfahl, befasste sich beispielsweise mit dem Begriff der "renditions" - etymologische Herleitungen verband er darin mit Überlegungen über neuartige Verhörmethoden; eine weitere, obskure Referenz gilt Pierre Teilhard de Chardin, einem jesuitischen Theologen, dessen Ausführungen zum Omega-Punkt dem Roman den Titel geben. DeLillo verhandelt über diesen Umweg so komplizierte Sachverhalte wie die Beziehung von Materie und Bewusstsein. Es geht um die unaufhörliche Expansion von Materie hin zu immer komplexeren Formen, die auch wieder in ihr Gegenteil umschlagen können - eine Evolutionstheorie, die Elster als Grundlage für seine Ideen wie einen "Haiku-Krieg" dient: "Müssen wir für immer menschlich bleiben? Das Bewusstsein hat sich erschöpft. Zurück zu inorganischer Materie, na los. Das wollen wir. Wir wollen Steine auf dem Feld sein."

Bevor sich die beiden Männer an diesem Übungsplatz der Gedanken in der Abstraktion verlieren, nimmt Der Omega-Punkt eine neue Wendung. Mit Jessie, der Tochter Elsters, bekommt das Spiel des wechselseitigen Studiums eine andere Grundlage. Von Anfang an handelt dieses Buch auch von der Beobachtung, von der (Un-)Möglichkeit, einem anderen über genaues Hinsehen nahezukommen. Der selbstsichere Habitus des Vaters lässt sich nun in einem anderen Licht studieren, umgekehrt findet Finley Gefallen an dem selbstverlorenen Gestus der jungen Frau, kurz kommt zwischen ihnen sogar erotische Spannung auf.

Wie DeLillo dieses scheinbar nur aus Nebensächlichkeiten, Erinnerungsfragmenten und Ideenresten bestehende Miteinander dreier Personen sublim auflädt, ohne daraus einen gewöhnlichen Plot zu entwerfen, ist großartig. Zusammenhänge werden nur angerissen, nicht ausgewiesen. So wie bei DeLillo sich Figuren über ihre Identität und ihren Lebensentwurf nicht sicher sind, so ist es der Leser nicht mit den unterschiedlichen Bedeutungsebenen. "Jeder verlorene Augenblick ist das Leben" , lautet ein Satz Elsters, der davon überzeugt ist, dass sich das wahre Leben nicht festhalten lässt, immer wieder entwischt.

Das Ereignishafte schlägt schließlich mit der Wucht des Unausweichlichen zu. Jessie verschwindet eines Tages spurlos, die Suche nach ihr verläuft ergebnislos, und das Ausharren in der Wüste zermürbt die Zurückgebliebenen von Tag zu Tag mehr. DeLillo streift mit dieser Entwicklung den Kriminalroman, aber es geht ihm natürlich weniger um ein Verbrechen als um das, was es aus den Menschen macht. Finley verirrt sich beinahe selbst in der Wüste, wo er ein Erweckungserlebnis hat: Geschichte, erkennt er zuletzt, ist für ihn hier und jetzt, und nicht im Irak.

Eingerahmt wird dieser minutiös komponierte Roman von zwei Episoden, die im Raum von Douglas Gordons Installation 24 Hour Psycho spielen. Hitchcocks Klassiker wird darin in großer Langsamkeit in neue Bedeutungsschichten zerlegt. Ein mysteriöser Mann hält sich im Dunkel auf, an die Wand gelehnt, süchtig nach den Bildern, in denen er immer noch unbekannte Details entdeckt. Er ist der Omega-Punkt des Romans, eine unbekannte Größe, die von dieser unheimlichen Idee DeLillos erzählt, dass jedes Verhältnis nur ein weiteres nach sich zieht. (Dominik Kamalzadeh/DER STANDARD, Printausgabe, 3. 3. 2010)