So sehr ich das Recht der freien Meinungsäußerung hochhalte und so sehr ich mich zum Grundrecht der Freiheit der Wissenschaft bekenne, so bestürzt bin ich aus einer Reihe von Gründen über die unkommentierte Veröffentlichung des Interviews mit Prof. Claudia von Werlhof.

Bestürzt bin ich zunächst über die in ihrem Wesen abstoßende Instrumentalisierung des kaum fassbaren Leidens, das das Erdbeben in Haiti verursacht hat, für eine überaus fragwürdige "theoretische" Schuldzuweisungskonstruktion. (Zitat: "Das Beben in Haiti könnte maschinell erzeugt worden sein, um die US-Besetzung des Landes zu ermöglichen.") Während sogar in den ärmsten afrikanischen Ländern Spendengelder als Ausdruck der Solidarität für die Opfer bzw. Überlebenden mit großem Erfolg gesammelt wurden, beschränkt sich die Frau Professor auf einen nur als zynisch zu bezeichnenden Sarkasmus, der lediglich der Bestätigung der eigenen (narzisstischen) Theoriegebäude dient.

Nicht minder bestürzend und abstoßend sind aber auch die Aussagen bezüglich "Subsistenzproduktion [und] dezentraler Selbstversorgung". Prof. Werlhof muss wissen, dass genau diesem Programm in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts in den "killing fields" des von den Roten Khmer terrorisierten Kambodscha/Kampuchea an die zwei Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Das Ausblenden bzw. Negieren dieser Tatsache richtet sich von selbst.

Demgegenüber sind im globalen Diskurs weitgehend anerkannte theoretische Annahmen, wie etwa jene über die überaus prekären Lebensbedingungen der subsistenzwirtschaftlichen "malthusianischen Falle", die stets von Mangel, Hunger, kriegerischen Konflikten und Menschenhandel geprägt war und ist, oder jene, die das Wachstum und die Verteilung der dadurch erzielten Mehrwerte als Grundlage der (west-)europäischen Entwicklung nach 1945 in Frieden und Wohlstand ansehen, beinahe nebensächlich. Dennoch sollten die auf dieser Basis entstandenen - sicherlich nie völlig verwirklichten - ideellen Werte (wie soziale Sicherheit, Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit ...), die sich gerade in der gegenwärtigen Phase der Reglobalisierung zu bewähren haben, nicht einem von Prof. Werlhof verfochtenen theoretischen Konzept geopfert werden.

Ich bin der empirisch leicht belegbaren Ansicht, dass die kritische Problematisierung der Gender-Verhältnisse erst im liberalen Rechtsstaat möglich geworden ist und da auch überaus wichtige (praktische) Erkenntnisse gebracht hat. Ich bezweifle aber, dass die von Prof. Werlhof in diesem Interview dargelegten, an krude Weltverschwörungstheorien erinnernden Konstruktionen hierzu beitragen. Selbstverständlich gestehe ich Frau Professorin ihr Recht auf freie Meinungsäußerung zu, im wissenschaftlichen Bereich und gerade auch als Lehrende sollte sie sich aber auch den Kategorien "Gegenstand", "Methode", "logische Stringenz" und vor allem "Überprüfbarkeit der Aussagen" verbunden fühlen.

Dass sie dagegen mit ihren Aussagen bei vielen nur Kopfschütteln erzielt, ist ihr Problem, dass aber der Standard diese Aussagen überhaupt publiziert, halte ich aufgrund obiger Argumente für skandalös. (Hans Peter Hye, DER STANDARD, Printausgabe 18.2.2010)