Jean-Paul Fitoussi: "Griechenland ist ein Symptom für das Nichtfunktionieren der EU."

Foto: Leif Carlsson

Griechenlands Schulden sind für ihn ein Scheinproblem. Der französische Spitzenökonom Jean-Paul Fitoussi fordert von der EU wirkliche Maßnahmen - wie etwa die Ausgabe von Eurobonds, sagt er zu Stefan Brändle.

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STANDARD: Droht nach der Finanzkrise bald eine neue Krise?

Fitoussi: Nicht sofort. Regierungen und Zentralbanken haben gut reagiert. Wenn das Finanzsystem nicht reguliert wird und wenn niemand die inkompetenten Rating-Agenturen kontrolliert, drohen neue Probleme. Außer Einzelfällen - die Bonus-Besteuerung in England und Frankreich - haben die G-20-Staaten wenig unternommen. Der Obama-Plan ist ehrgeiziger, stößt aber auf Widerstand. Vor der Krise hatten die US-Banken 40 Prozent aller Gewinne im Land erzielt. Jetzt nehmen ihre Profite und Boni wieder zu. Der Finanzsektor frisst die übrige Wirtschaft.

STANDARD: Die europäische Wirtschaft ist noch nicht über den Berg?

Fitoussi: Das Grundproblem der EU ist, dass sie sich zunehmend in nationale Interessen verstrickt. Gerade in der Krise wäre ein solidarisches Verhalten gefragt gewesen. Die EU-Kommission glänzte aber durch Abwesenheit. Jetzt ergreift sie wegen Defizitüberschreitungen Maßnahmen gegen 20 von 27 Mitgliedstaaten. Was kann man schon von einem Gesetz halten, das zwei Drittel der Bevölkerung ins Gefängnis wirft? Solches Fehlverhalten hat Folgen.

STANDARD: Sie plädieren für eine Wirtschaftsregierung in der EU?

Fitoussi: Sogar für eine Regierung mit Kompetenz über das wichtigste Steuerungsmittel, das Budget. Wenn die USA schneller zum Wachstum zurückfinden, dann, weil sie beschließen können, sich die notwendigen Budgetmittel zu geben. Während der Ankurbelungsplan der EU 1,6 Prozent des Bruttoinlandproduktes betrug, machte er in den USA im gleichen Zeitraum (2008-2010) 5,6 Prozent aus. Nun fordert Brüssel auch noch eine große Zahl europäischer Staaten auf, Sparpläne aufzulegen. Dabei ist der derzeit zentrale Punkt nicht das Budgetdefizit, sondern die Arbeitslosigkeit.

STANDARD: Bleibt aber der Problemfall Griechenland ...

Fitoussi: Ich sehe nicht ein, warum Griechenland ein Problem sein soll. Seine Haushaltschuld ist nicht höher als die deutsche.

STANDARD: Weil die Finanzmärkte die Wirtschaft Athens angreifen.

Fitoussi: Sie vergessen, dass sie ihre eigene Rettung den Staaten verdanken. Griechenland wiegt bloss drei Prozent der Eurozone.

STANDARD: Droht mit Portugal und Spanien nicht ein Dominoeffekt?

Fitoussi: Die EU hat insgesamt ein größeres Budgetdefizit und eine niedrigere öffentliche Schuld als die USA. In dieser Hinsicht sehe ich kein Problem.

STANDARD: Wo liegt es dann?

Fitoussi: Griechenland ist ein Symptom für das Nichtfunktionieren der EU. Sie hat sich im Lissabon-Vertrag selbst die Hände gebunden. Die "No-Bail-out" -Klausel sagt, dass ein Euroland nicht für Verbindlichkeiten und Schulden der anderen Länder geradestehen muss. Warum hat man diese Doktrin nicht auf die Banken angewendet? Da wurde auch "bail- out" betrieben - und zwar mit einer Branche, die einzig für den eigenen Profit und zum Nachteil der Öffentlichkeit gehandelt hatte. Von den Griechen verlangt man, dass sie den Gürtel enger schnallen und sozial leiden sollen.

STANDARD: Was also wäre zu tun?

Fitoussi: Wachstumsankurbelung ist nötig, aber nicht genügend. Ich schlage seit Jahren vor, dass die EU Eurobonds herausgeben sollte. Damit könnte man solchen Situationen begegnen - und nicht nur in Griechenland. Zuvor hatte die EU die Osteuropa-Mitglieder fallenlassen. Brüssel schickte sie zum Internationalen Währungsfonds.

STANDARD: Eine europäische Budgetpolitik ist derzeit utopisch. Worauf könnte eine "Exit Strategy" hinarbeiten?

Fitoussi: Ein Vorschlag wäre die Bildung einer Europäischen Gemeinschaft für Umwelt, Energie und Forschung - nach dem Modell der Montanunion für Kohle und Stahl 1951. Dies-bezüglich haben wir große Trümpfe. Europa sollte seinen Vorsprung bei den neuen Technologien und der Umwelt ausnützen, indem es eine solche Gemeinschaft bildet. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13./14.2.2010)