Was haben Hans Rauscher und Renée Schroeder gemeinsam? Beide erheben ihre Stimme für eine offene Gesellschaft auf Basis aufgeklärter Rationalität. Daneben gibt es eine weitere, problematischere Gemeinsamkeit: Beide, persönlich über jeden Verdacht des Antijudaismus erhaben, bringen ein antijudaistisches Vorurteil zum Ausdruck, nämlich die Assoziierung der Heiligen Schrift der Juden (und Christen!) mit "durchgeknallter" Gewalttätigkeit**. Während Schroeders Verbindung des alttestamentlichen Gottes mit Massenmord aber als Polemik einer Wissenschafterin angesehen werden kann, die über keine hermeneutische Erfahrung im Umgang mit literarischen Texten verfügt, ist die Aussage Rauschers schwerwiegender, denn dieser lässt in seinen Beiträgen die Stimme eines aufgeklärten Christentums anklingen. Umso mehr ist deren Stereotypien zu begegnen: 

Das erste Vorurteil ist mit der Bezeichnung "Alt" assoziiert. Sie führt zur Auffassung, dass das (jüdische) Alte Testament überholt und durch das (christliche) Neue Testament ersetzt ist. Dagegen meint "Alt" zunächst "ehrwürdig" . Theologisch ist die Sache klar: Für Juden und Christen ist das "Alte Testament" die "Bibel" , d. h. Heilige Schrift und Grundlage des Glaubens. Wenn im Christentum auch ein "Neues Testament" gelesen wird, dann hebt dieses nicht das "Alte" auf, sondern liefert eine Lektüreanleitung für dessen Verständnis. Und für die Gabe des Alten Testaments schulden Christen den Juden unendliche Dankbarkeit. Ohne dieses ist das Neue Testament und mit ihm Jesus nicht verständlich.

Das zweite Vorurteil ist inhaltlicher Art: Es unterstellt dem Alten Testament einen rachsüchtigen Gott der Gewalt, dem ein neutestamentlicher Gott der Liebe entgegengestellt wird. Kritiker der Bibel machen darauf aufmerksam, dass die Schriften des Neuen Testaments nicht weniger gewalttätig sind. Das Urteil "durchgeknallt" müsste also die gesamte Bibel, Juden und Christen treffen. Da ist Schroeder konsequenter.

Eine Überlegung zum Inhalt der Bibel: Es geht ihr darum, jene soziale und individuelle Schuld aufzudecken, unter deren Verhängnis der Mensch steht und die Ursache dafür ist, dass er Leid, Unterdrückung, Krieg, soziale und wirtschaftliche Gewalt erfährt. Diese Aufdeckung ist Voraussetzung dafür, dass der Mensch untereinander und mit Gott versöhnt den festlichen Ursprung der Schöpfung feierlich je neu begehen und somit im tiefsten Sinne des Wortes "leben" kann. Dabei geht es um die Frage, ob man mit den pharaonischen Mächten aller Zeiten kollaboriert oder ob es gelingt, Auswege aus deren latenter Gewalttätigkeit zu finden. Die von Schroeder inkriminierte Sintflutgeschichte ist so zu entziffern.***

Archen des Guten

Die Flut ist das altorientalische Motiv für die Todesmacht des Chaos und sie wird in der Bibel damit begründet, dass die "Erde voller Gewalttat" ist. Entgegen dem biblischen Schöpfungssinn, der Blutvergießen (sogar das Vergießen des Blutes der Tiere!) streng verbietet, schaukeln sich menschliche Kulturen zu einer Orgie an Gewalt auf, die die Welt in den Untergang triebe, gäbe es nicht kleine "Archen" , Rückzugsgebiete, in denen alternative Modelle gewaltfreien Zusammenlebens bewahrt werden. Manchmal, auch dies weiß die Bibel, kann Gewalt ein Ausmaß erreichen, auf das der Mensch nur mehr mit einem Verzweiflungsschrei reagieren kann. Rauscher hat wohl jene Stellen im Blick, wo von gewaltsamer Auslöschung der Feinde die Rede ist.

Liest man genauer, sieht man, dass diese Auslöschung nicht Sache des Menschen ist, sondern das dieser Gott darum bittet. Dies ist nicht das letzte Wort, weder im Alten noch im Neuen Testament, denn das geht in Richtung Barmherzigkeit auch und gerade mit dem Feind. Es ist aber sehr wohl ein Gebet der Unterdrückten und Gefolterten dieser Erde, bevor sie selber aktiv zur Gewalt greifen.

Wenn also etwas "durchgeknallt alttestamentarisch" ist, dann die Tatsache, dass man selbst in tiefster Not nicht zur Gewalt greift und versucht, Frieden zu stiften und die Schöpfung festlich zu vergegenwärtigen. Gerade darum haben sich Juden, wenn sie die Bibel (das "Alte Testament" ) im Lichte des Talmuds gelesen haben, immer wieder bemüht. (Kurt Appel, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11.02.2010)