Seit 2001 Weltkulturerbe: die Zeche Zollverein in Essen mit dem Doppelbockgerüst und den Stahlfachwerk- Gebäuden im Bauhausstil von Fritz Schupp und Martin

Foto: Reinicke/StandOut.de

Essen bewarb sich im Namen des Reviers - und erhielt von der EU den Zuschlag: Erstmals ist nun eine Wirtschaftsregion "Europäische Kulturhauptstadt". Das Ruhrgebiet, mit 5,3 Millionen Einwohnern der fünftgrößte Ballungsraum in Europa, stellt sich als "polyzentrische Metropole im Werden" vor. Das Programm umfasst 2500 Veranstaltungen. Die Metallbox "Grand Tour 2010" enthält Gutscheine für den Eintritt zu den Highlights und für eine Übernachtung in Viersternehotels, als Orientierungshilfe dienen vier Broschüren mit Touren zu speziellen Themen. Infos: www.ruhr2010.de, www.grand-tour-2010.de

Kokerei Zollverein, Werksschwimmbad.

Foto: Manfred Vollmer

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Die speziell ausgeschilderte "Route Industriekultur" ist ein 400 Kilometer langer Rundkurs durchs Ruhrgebiet. Auf dem Weg liegen alle wichtigen Denkmäler des Industriezeitalters, darunter 25 sogenannte "Ankerpunkte" mit Besucherzentren (wie die Zeche Zollverein, die Jahrhunderthalle Bochum, das Deutsche Bergbau-Museum, das Umspannwerk Recklinghausen, der Chemiepark Marl, das Schiffshebewerk Henrichenburg und die Kokerei Hansa), 13 Arbeitersiedlungen und 15 Aussichtspunkte. Es gibt auch eine spezielle Radroute - zum Teil auf alten Eisenbahntrassen. Info: www.route-industriekultur.de

Auch wenn der frisch renovierte Bahnhof als "Shoppingcenter mit Gleisanschluss" kritisiert und am Dach des Hauses vis-à-vis in großen Neonlettern behauptet wird, dass Essen "die Einkaufsstadt" sei: Zum Boutiquenbummel fährt man lieber woanders hin.

Im Zentrum gibt es zwar die Lichtburg aus den 1920er-Jahren, mit 1250 Sitzplätzen das größte Kino Deutschlands: Sie ist - wie das Wiener Gartenbaukino - ein wunderbarer Ort, um sich selbst bei Kassenschlagern einsam zu fühlen. Es gibt zudem eine wunderschöne, mit Jugendstil-Elementen verzierte Synagoge, die in der Reichspogromnacht nicht ganz in sich zusammenfiel. Sie gilt als der größte jüdische Sakralbau nördlich der Alpen. Natürlich sollte man auch dem romanischen Münster mit dem siebenarmigen Bronzeleuchter (um 1000) und der goldenen Madonna, der ältesten vollplastischen Marienfigur des Abendlandes, samt beeindruckender Krypta aus Beton einen Besuch abstatten. Aber trotzdem: Essen, nach dem Zweiten Weltkrieg lieblos wieder aufgebaut, lädt nicht zum Bummeln ein.

Hochinteressant ist die Stadt dennoch: weil sie auf mannigfaltige Art Zeugnis gibt vom Industriezeitalter und von dessen Auswüchsen. Geradezu ein Muss ist die Besichtigung der pompösen Villa Hügel: Alfred Krupp ließ die Residenz mit gut 220 Zimmern und einem tonnengewölbten Saal nach eigenen Plänen im Süden von Essen errichten. Nebenan, im Gästehaus, informiert eine Ausstellung über die Industriellenfamilie, die im 19. Jahrhundert mit nahtlosen Stahlreifen für Lokomotiven und später (ganz besonders in der NS-Zeit) mit Waffen das wirklich große, aber auch schmutzige Geld verdient hat: Im Vergleich zur rasch expandierenden Gussstahlfabrik wirkte Essen wie ein Vorort.

Heute erinnert nicht mehr viel an die Krupp-Ära: Das Werksgelände, von den Alliierten heftig bombardiert, wurde großteils verkauft, die dreischiffige Fabrikshalle zum beeindruckenden Musical-Theater Colosseum umgebaut.

Im Norden von Essen hingegen stehen noch immer die Ruinen einer untergegangenen Epoche: auf der Zeche Zollverein, die wohl das bekannteste (und imposanteste) Industriedenkmal des Ruhrgebiets ist. Von 1847 bis zur Stilllegung am 23. Dezember 1986 - es waren äußerst deprimierende Weihnachten - baute man 220 Millionen Tonnen Kohle ab. 2001 wurde die Schachtanlage XII mit dem Doppelbockgerüst und den Stahlfachwerk-Gebäuden im Bauhausstil, nach den Plänen von Fritz Schupp und Martin Krenner 1932 errichtet, zusammen mit der Schachtanlage 1/2/8 aus dem 19. Jahrhundert und der Kokerei zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt.

Nicht ohne Grund fand auf diesem bizarren Gelände - ein geführter Rundgang lohnt definitiv - die Eröffnungsfeier des Kulturhauptstadtjahres statt: Die Zeche Zollverein steht paradigmatisch für das Motto "Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel". Denn nach dem Niedergang der Schwer- industrie im Ruhrgebiet (der Abbau von Kohle unter Tag war bereits in den späten 1970er-Jahren nicht mehr rentabel) und einer Phase der Ohnmacht setzt man alle Hoffnungen auf die Kunst bzw. die Kreativwirtschaft - mit zunehmendem Erfolg.

Auf der Zeche Zollverein sind bereits mehrere Institutionen untergebracht, darunter das choreografische Zentrum "Pact" und das "red dot design museum". Zur Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres wurde zudem in der ehemaligen Kohlenwäsche, von Rem Koolhaas um ein Personenförderband (Rolltreppe) und ein geniales Stiegenhaus ergänzt, das Ruhr Museum eröffnet: Die Dauerausstellung erzählt anhand ausgesuchter Exponate die Geschichte des Reviers von der Steinzeit über die Christianisierung bis heute. Das Hauptaugenmerk liegt natürlich auf den letzten 200 Jahren: wie die Industrialisierung die ehemalige Agrarlandschaft in die größte Montanregion Europas verwandelte.

Die identitätsstiftenden, mittlerweile aber überkommenen Klischees (Luftverschmutzung, Land der tausend Feuer) werden zwar durchdekliniert, aber von neuen Bildern überlagert: von jenen des Wandels. Denn nicht nur in Essen, sondern im gesamten Ruhrgebiet wurden die Wahrzeichen des Industriezeitalters zumeist kulturellen Nutzungen zugeführt.

Der Gasometer von Oberhausen, mit einer Höhe von 117,5 Metern der größte Europas, ist nun eine gigantische Ausstellungshalle. Und die Küppersmühle am Innenhafen von Duisburg beherbergt die renommierte Sammlung Ströher mit deutscher Kunst seit 1945. Bis Ende 2010 (eher aber bis zum Frühjahr 2011) wird das Museum einen Erweiterungsbau erhalten: Das Schweizer Team Herzog & de Meuron, das Ende der 90er-Jahre den Umbau der Mühle betreuten, setze auf die fünf Silo-Säulen einen monumentalen Quader mit transparenter Hülle und 2000 Quadratmeter Ausstellungsfläche. Nebenan adaptieren die Brüder Laurids und Manfred Ortner, die Architekten des Wiener Museumsquartiers, einen alten Getreidespeicher: Er soll, um einen Turm ergänzt, Deutschlands größtes Archivgebäude werden.

Zudem wurden mehrere künstlerische Landmarks errichtet - auf den Halden der Bergwerke, also den künstlichen Hügeln des ansonsten recht flachen Landes: Richard Serra stellte nahe Essen eine 15 Meter hohe "Bramme für das Ruhrgebiet" auf, bei Bottrop wurde ein begehbarer Tetraeder, eine recht gigantische Stahlkonstruktion von Wolfgang Christ, errichtet.

Und die devastierten Gebiete werden zu Landschaftsparks. Das wohl ehrgeizigste Projekt befasst sich mit der Emscher, die als Kloake missbraucht wurde, um die anderen beiden Flüsse, Lippe und Ruhr, sauber zu halten: Unterirdisch wurde ein Abwasserkanal verlegt, die Emscher wird "renaturiert". Auch hier gibt es künstlerische Interventionen: von Tobias Rehberger, Jeppe Hein und anderen ab 25. Mai unter dem Titel "Emscherkunst". Doch zunächst einmal, am 30. Jänner, wird das um 55 Millionen Euro großzügig erweiterte Folkwang Museum in Essen eröffnet: David Chipperfield gruppierte die neuen Säle um mehrere Innenhöfe. Klasse. (Thomas Trenkler/DER STANDARD/Printausgabe/23.1.2010)