Beate & Serge Klarsfeld: "Endstation Auschwitz: Die Deportation deutscher und österreichischer jüdischer Kinder aus Frankreich. Ein Erinnerungsbuch", 187 Seiten, Böhlau 2008.

Coverfoto: Böhlau

Im Sommer 1939 wird Ernst Papanek zur Präfektur von Versailles gerufen, um eine Beschwerde der deutschen Botschaft entgegenzunehmen. Papanek, österreichischer Sozialist, Pädagoge, Jude, leitet ein Kinderheim in Montmorency nördlich von Paris. Die Deutschen protestieren, dass unter den Kindern nicht wenige "sans papiers" in Frankreich sind, also illegal, Kinder aus dem Deutschen Reich. Papanek und der Polizeipräfekt wissen beide, dass die Botschaft recht hat. Sie führen ein ernstes Gespräch, ohne die geringsten Anzeichen eines gegenseitigen Einverständnisses.

Papanek zeigt angemessene Bestürzung. "Um wie viele Kinder geht es, Monsieur le Préfet? Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen die Daten bis morgen zur Verfügung stellen." "Ja, schicken Sie mir die Zahlen", sagt der Präfekt. "Und ich werde auch eine genaue Namensliste brauchen."

Dann steht er von seinem Schreibtisch auf, schüttelt Papanek die Hand zum Zeichen, dass das Gespräch zu Ende ist. Er weiß, dass er weder Namen noch Zahlen bekommen wird, nicht am nächsten Tag und nicht in der nächsten Woche, einfach niemals. Beide können sich nicht vorstellen, dass Frankreich die Kinder den Nazis jemals ausliefern würde. Der Präfekt diktiert ein Memorandum, legt es in eine Mappe und hofft, sie nie wieder öffnen zu müssen.

Frankreich war in diesem Sommer die Fluchtburg der europäischen Asylanten. Flüchtlinge aus Italien, Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei, Polen, Rumänien, Russland. Allein 250.000 spanische Republikaner. An die 120.000 Juden aus allen von den Deutschen besetzten Ländern, staatenlos, unzugehörig. Die Polizei hatte anderes zu tun, als sich um die Anliegen der Deutschen zu kümmern.

Papanek führte das Heim im Auftrag der OSE (Organisation de Secours aux Enfants), einer privaten jüdischen Hilfsorganisation. Er hatte an der Seite der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und dann in Frankreich seine Familie wieder getroffen, seine Frau Lene und die beiden Söhne. Lene hatte das heiß begehrte Affidavit und die Schiffskarten in der Tasche, sie konnten jederzeit in die USA ausreisen. Da erreichte ihn im Sommer 1938 ein Anruf der OSE mit dem Angebot, in Montmorency ein Heim für deutsche und österreichische Flüchtlingskinder zu eröffnen. Lene brach in Tränen aus. Sie wollte so schnell wie möglich weg aus Europa. Papanek stand auf der schwarzen Liste der Gestapo. Aber noch war Frieden, die Deutschen weit weg. Papanek unterschrieb für sechs Monate. Dann änderten die Novemberpogrome alle Pläne.

Ein Netz von Kinderheimen

Die OSE begann, jüdische Kinder aus Deutschland herauszuholen. Ernst Papanek blieb in Frankreich. In den nächsten eineinhalb Jahren eröffnete er ein Kinderheim nach dem anderen. Die OSE schnorrte ziemlich viel Geld von einer Handvoll reicher jüdischer Franzosen, mietete oder kaufte eine Reihe von großen Häusern und Schlössern. Die Wirtschaftskrise hatte Frankreich fest im Griff, nicht wenige Aristokraten waren froh, ihre alten Kästen loszuwerden.

So wie Papanek warb die OSE einen großen Stab von Heimleitern und Erziehern an, Männer und Frauen, Juden und Nichtjuden, Flüchtlinge und Franzosen. Frankreich wurde von einem Netz von Kinderheimen überzogen.

Im September 1940, vier Monate nach dem Blitzkrieg und der Siegesparade der Wehrmacht in Paris, beauftragten die Deutschen die französischen Behörden mit der Judenzählung. Pro forma regierte die Regierung von Marschall Pétain von Vichy aus. De facto war Vichy eine Marionette von deutschen Gnaden. Dementsprechend schwankte die Loyalität der Franzosen zwischen Kollaboration und Ablehnung der "boches", die Frankreich eine demütigende Niederlage zugefügt hatten. Noch aber gab es keinen zivilen Widerstand. Fast alle Juden ließen sich registrieren, schon aus Angst vor den harten Strafen im Fall einer Weigerung und weil sich 1940 kaum jemand vorstellen mochte, was auf sie zukam.

Damit besiegelten sie ihr Schicksal.

Am Vorabend des Krieges lebten an die 320.000 Juden in Frankreich, davon etwa 70.000 Kinder und Jugendliche. Nur etwa die Hälfte von ihnen waren französische Bürger. Nach dem Waffenstillstand vom Juni 1940 internierte das Vichy-Regime Zehntausende als "unerwünschte Personen".

Als die Deutschen 1941 die ersten Verhaftungswellen anordneten und ab 1942 die Deportationszüge nach Auschwitz rollten, parierte das Vichy-Regime ohne Zögern und legte einen regelrechten Übereifer an den Tag, um möglichst viele ausländische Juden auszuliefern, auch die Kinder, ohne dass sie dazu aufgefordert worden waren. 76.000 Juden wurden bis Ende Juli 1944 nach Auschwitz deportiert, davon 11.400 Kinder, davon 2000 jünger als sechs Jahre. Etwa ein Drittel waren Franzosen. 7000 Juden kamen aus Deutschland, 3500 aus Österreich, darunter etwa 800 Kinder. Die anderen Deportierten waren aus Polen, Russland, Rumänien. Drei Prozent der Deportieren überlebten, sehr wenige Kinder, keines unter dreizehn Jahren.

Das alles ging nicht glatt vor sich. Die französische Polizei folgte den Orders oft nur widerwillig, vor allem in den ländlichen Gebieten. Hilfsorganisationen wie die OSE, der S.E.R.E. (Service d'Evacuation et de Regroupement d'Enfants), die OPEJ (OEuvre de protection des enfants juifs), die ökumenischen Amitiés Chretiennes unter der Schirmherrschaft von Kardinal Pierre-Marie Gerlier und die protestantische Cimade (Comité Inter Mouvements Auprès des Évacués), die amerikanischen Quäker in Marseille und einige Schweizer Hilfswerke retteten tausende Kinder, deren Eltern verschwunden waren. Familien, Klöster, Pfadfinderheime, Waisenhäuser und Internate nahmen die "enfants cachés", die versteckten Kinder, auf. Nicht, dass die Franzosen die Juden besonders liebten. Doch als sie feststellten, dass ganze Familien interniert und dann in das Deportationslager Drancy bei Paris verschleppt wurden, widersetzten sie sich.

In Chambon-sur-Lignon, einem hugenottischen Städtchen auf dem Vivarais-Plateau in der Auvergne, entwickelte sich aus dem zivilen Ungehorsam eine Massenaktion. Auf Initiative von Pfarrer André Trocmé, und seiner Frau Magda wurden 3500 Juden, darunter 2000 Kinder, und 1500 politische Flüchtlinge in Privathäuser, Schulen, Hotels und bei den Bauern der Umgebung aufgenommen. Die meisten Kinder brachte die OSE auf das Plateau. Allein dieses Unternehmen erforderte eine ebenso präzise wie verschwiegene Logistik. Die Juden erhielten Lebensmittel, Identitätskarten, die Kinder gingen in die Schule, viele wurden in die Schweiz geschleust. Die lokale Polizei patrouillierte mit einer gewissen Nachlässigkeit, es blieb immer genug Zeit, die Flüchtlinge in die Wälder zu bringen, wenn sie anrückte. Als Protestanten hatten die Leute Erfahrung mit religiöser Verfolgung, sie waren bekannt für ihre Widerspenstigkeit und ihren Zusammenhalt, und die Behörden wagten nicht, hart durchzugreifen. Erst als die Deutschen Ende 1942 den Süden besetzten, zahlte Chambon seinen Blutzoll. Fünf Kinder wurden bei einer Razzia der Schule als Juden identifiziert, nach Auschwitz deportiert und sofort ins Gas geschickt. Ihr Lehrer Daniel Trocmé, der Cousin des Pfarrers, starb im KZ Majdanek, den Arzt Roger Le Forestier erschoss die Gestapo in Lyon - am 20. August 1944, wenige Tage vor der Befreiung.

Die Regeln der Tarnung

Der Philosoph André Glucksmann, geboren 1937 in Paris und damit nach dem Ius Soli Franzose, von seinen österreichischen Eltern Joseph genannt (nach Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder, erzählte seine Mutter Martha, was ihn aber nicht hinderte ihr zu unterstellen, einen anderen Joseph zu meinen - Stalin nämlich), hielt sich bereits mit fünf Jahren an die Regeln der Tarnung unter dem Kriegsrecht. Der Vater war 1940 umgekommen, die Mutter in der Résistance. Er war vier, als er mit Martha und seiner Schwester Micky von der französischen Polizei im Lager Bourg-Lastic interniert wurde. Von dort rollten die Züge nach Drancy, von Drancy nach Auschwitz. Martha war sich darüber vollkommen im Klaren. Sie begann, die Menschen im Lager laut und vernehmlich über das endgültige Ziel der Reise nach Drancy zu informieren. Bevor im Lager eine Panik ausbrach, beschlossen die Polizisten, das schwarze Schaf und seinen Nachwuchs von der Herde zu trennen. "Sie hätten uns beseitigen können", erzählt Glucksmann. "Stattdessen zogen sie es vor, meiner Staatsangehörigkeit, die sie bisher ignoriert hatten, mehr Aufmerksamkeit zu schenken, und sie diente ihnen als Alibi für unsere Freilassung."

Die Familie tauchte in einem kleinen Haus in der Gegend von Lyon unter. Um das Kind verschwanden immer mehr Leute, es verstand, dass träumerische Unachtsamkeit lebensgefährlich war, wenn unweit des Unterschlupfs der Gestapo-Chef Klaus Barbie die Juden jagte und dabei auch nicht die Kleinsten ausließ. Als es brenzlich wurde, brachte ihn Martha im katholischen Waisenhaus Croix-Fleurie unter. Der kleine Joseph Rivière - so hieß er nun - mutierte zu einem Chorknaben, der fleißig ministrierte und seine Umwelt mit "zahlreichen Kreuzeszeichen und dahingenuschelten Ave-Marias" für sich einzunehmen verstand. Erst viel später wurde Glucksmann klar, dass sich weder der Pfarrer noch die Nonnen über seine zweifelhafte Herkunft täuschen ließen. Nach Croix-Fleurie steckte Martha ihren Sohn in ein Spital, auch dort spielte er seine Rolle als Kranker tadellos, und das Personal spielte mit.

Südfrankreich war das Zentrum der Résistance. Niemand kann sagen, wie viele Gruppen es gab, aber so riskant es war, sich in die widerständigen Netzwerke zu begeben, sie waren auch eine Überlebensstrategie. Man brauchte Zufall und Glück, Kaltblütigkeit und im richtigen Moment Chuzpe. Zufall, den Häschern nicht in die Hände zu fallen. Glück, dass die Polizei im richtigen Moment wegschaute und einen falschen Ausweis mit Nonchalance zurückgab, denn man war hier in Frankreich, n'est ce pas, und was gehen uns die Deutschen an? Kaltblütigkeit, die falsche Identität aufrechtzuerhalten, egal, was passierte. Kinder lernen rasch, ein Leben im Untergrund zu führen, wenn rundherum die Werwölfe heulen. Glucksmann hatte eine Mutter, die geübt war in Konspiration und sich keiner Täuschung über die Absichten der Nazis hingab. Aber genauso gut hätte es schiefgehen können.

Als die Deutschen im Herbst 1943 die italienisch besetzte Côte d'Azur okkupierten, richtete SS-Obersturmführer Alois Brunner, Österreicher, Organisator der Judendeportationen aus Wien, Berlin, Saloniki und Paris in Nizza ein Sonderkommando ein. Hier im Süden drängten sich tausende Flüchtlinge, und Brunner macht sich daran, sie zu deportieren. Der Historiker und Jurist Serge Klarsfeld war acht Jahre alt, als sein Vater der Gestapo die Wohnungstür öffnen musste. Seine Mutter versteckte sich mit ihren beiden Kindern hinter der doppelten Rückwand eines Kleiderschranks.

Wie durch ein Wunder

"Die Gestapoleute fangen an zu suchen", schreibt Klarsfeld, "zweifellos weniger sorgfältig, als wenn ihnen niemand geöffnet hätte. Einer von ihnen betritt den Wandschrank und schiebt die Kleider auf der Stange beiseite, um nachzusehen, ob sich jemand dahinter verbirgt. Wie durch ein Wunder berührt der Gestapomann die Rückwand nicht ... zwei Tage später sieht Raissa Klarsfeld auf dem Bahnhof von Nizza ihren Mann bei der Abfahrt nach Drancy." Serge sah seinen Vater nie mehr wieder.

Sie tauchten bei einem Ehepaar in Nizza unter. Die Bevölkerung nahm die Juden auf, und die Gestapo musste Haus um Haus und Wohnung um Wohnung durchkämmen, um sie aufzuspüren. Die Kirche kümmerte sich vor allem um die Kinder. "Wir haben unsere kleinen jüdischen Gäste mit falschen Papieren versehen", berichtet Schwester Marie vom Mädcheninternat Maison-Blanche. "Wir statteten sie mit Geburtsorten in Algerien aus, weil dies nicht zu kontrollieren war." Die Präfekturbeamten drückten alle Augen zu und gaben keine Namenslisten weiter. Von den 25.000 Juden, die zwischen Cannes und Menton lebten, konnte Alois Brunner, als er drei Monate später nach Drancy zurückkehrte, eine Bilanz von etwa 1900 deportierten Juden vorweisen.

"Die Juden in Frankreich", sagt Klarsfeld, "werden immer in Erinnerung behalten, dass zwar das Vichy-Regime sich mit Schande bedeckt hat, indem es entscheidend zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in diesem Land beitrug, dass aber die übrigen drei Viertel ihr Überleben wesentlich dem aufrechten Mitgefühl aller Franzosen verdanken, die von dem Augenblick an praktische Solidarität bewiesen, als sie begriffen, dass die jüdischen Familien, die den Deutschen in die Hände fielen, zum Tode verurteilt waren."

Die OSE versuchte fieberhaft, die gefährdeten Kinder in andere Quartiere zu bringen. Fünf vor zwölf, im Juli 1944, als die Wehrmacht bereits auf dem Rückzug war, ließ Alois Brunner neun Kinderheime im Norden Frankreichs "ausheben" und die zweihundert Kinder deportieren. Sie alle starben in Auschwitz. Im Süden, im "Maison d'Izieu", nahm die Gestapo auf Befehl von Klaus Barbie am 6. April sieben Erzieher und 44 Kinder fest. Eines von ihnen war Georg "Georgy" Halpern.

Georg Halpern, geboren 1935 in Wien, war nach dem "Anschluss" mit seinen Eltern nach Frankreich geflohen und der OSE anvertraut worden. Am 13. April 1944 wurde er wie alle seine Gefährten nach Auschwitz deportiert und sofort umgebracht. Die Eltern Julius und Serafine überlebten, bis 1989. Sie haben die Suche nach ihrem Kind nie aufgegeben. In seinem letzten Brief vom 28. Februar schrieb Georgy:

"Liebe Mama! Ich habe deinen Brief und dein Paket erhalten, die mich sehr erfreut haben. Mir geht es gut. Hier haben wir jetzt Schnee. Ich esse gut, es ist nicht sehr kalt, es ist ein bisschen warm und das ist sehr schön. Am Faschingsdienstag werden wir ein Fest haben. Zum Schluss sende ich dir 1 0000000000000000 Küsse, dein Sohn, der dich sehr lieb hat und oft an dich denkt. Tausend Küsse für dich und Papa."

Serge und Beate Klarsfeld haben in jahrelanger Arbeit die Namen, Geburtsdaten, Herkunftsorte, französischen Adressen und die Transportnummern von 800 deutschen und österreichischen Kinder rekonstruiert und ihre Fotos gefunden. Das Maison d'Izieu ist seit 1994 eine nationale Gedenkstätte.

Die Klarsfelds fanden Klaus Barbie 1972 nach Jahren in Bolivien. 1983 wurde er nach Frankreich ausgeliefert. Seine Unterschrift auf dem Bericht über die Deportation der Kinder von Izieu gaben der französischen Justiz die Möglichkeit, den Schlächter von Lyon vor Gericht zu stellen. Barbie wurde 1987 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und starb 1991 im Gefängnis von Lyon. Alois Brunner, die rechte Hand Adolf Eichmanns, setzte sich im September 1944 in die Slowakei ab, ließ von dort noch 12.000 Menschen nach Auschwitz deportieren und jagte bis zum Februar 1945 den jüdischen Widerstand im Raum Pressburg. Er lebte danach unbehelligt in Syrien, vielleicht heute noch. Ein französisches Gericht hat ihn in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Landesgericht für Strafsachen in Wien hält den Haftbefehl nach wie vor aufrecht. (Helene Maimann/DER STANDARD, Printausgabe, 23./24. 1. 2010)