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Karin Gutierrez-Lobos: "PatientInnen werden aufgrund des fehlenden geschlechtsspezifischen Ansatzes in der Medizin fehl-, unter-, ebenso wie überversorgt".
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Karin Gutierrez-Lobos ist Universitätsprofessorin und Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und Psychotherapeutin. Die Ärztin engagiert sich seit vielen Jahren für die Durchsetzung von "Gender-Mainstreaming" im Gesundheitswesen. Gemeinsam mit Universitätsprofessorin Gabriele Fischer hat sie die Informationsplattform "Frauen für Frauen - Brennpunkt Gesundheit" gegründet. Im Gespräch mit dieStandard.at erläutert sie ihre Arbeit:

dieStandard.at: Frau Dr. Gutierrez-Lobos, zu Beginn bitte eine Begriffsdefinition: Was ist frauenspezifische Medizin?

Gutierrez-Lobos: Der menschliche Prototyp in der Medizin ist immer noch der Mann: Das beginnt bei der medizinischen Ausbildung, setzt sich bei der Beschäftigung mit den Krankheitsbildern und der Behandlung fort und endet bei der Besetzung einflussreicher Gremien. Frauengesundheit bedeutet sowohl das biologische Geschlecht (Sex) als auch das psychosoziale Geschlecht (Gender) zu berücksichtigen. Die Wertung beginnt bei der Verwendung einer frauenbewussten Sprache in Betreuungssituationen als auch in der Berücksichtigung bei Spitalformularen und Behandlungsvereinbarungen.

Zur frauenspezifischen Sichtweise der Medizin gehört als Basisvoraussetzung zu erforschen, welche Krankheiten nur oder überwiegend bei Frauen vorkommen, welche Krankheiten bei Frauen mit anderen Manifestationen auftreten und warum Frauen manche Krankheiten selten, später oder gar nicht bekommen, die sogenannte Gesundheitsforschung.

dieStandard.at: Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?

Gutierrez-Lobos: Bei den chronischen Erkrankungen wie z. B. koronaren Herzerkrankungen, Diabetes oder Bluthochdruck ist der Anteil der Frauen im Vergleich zu den Männern jeweils erhöht. Dieses erklärt sich jedoch vor allem durch die höhere Lebenserwartung, d. h. bei Frauen treten diese Krankheiten vermehrt in höherem Alter auf. Das bedeutet, das der frauenspezifischen Erforschung und Behandlung dieser Krankheiten künftig erhöhte Priorität einzuräumen ist. Frauen sind bis dreimal häufiger von Depressionen betroffen, bei den Essstörungen sind 90 Prozent der Betroffenen weiblich. Zwei Drittel der Medikamente, die abhängig machen können, werden Frauen verschrieben. Da die Pharmaforschung überwiegend an jungen männlichen Probanden stattfindet, werden Frauen mit ihren anderen biologischen Voraussetzungen z. B. beim Stoffwechsel, zudem häufig überdosiert. Unterschiede in der Anatomie und den Lebenswelten führen dazu, dass selbst bei gleicher Krankheit die Ursachen und die Symptome andere sind, wie sich am Beispiel Herzinfarkt zeigt: Zwar konnte insgesamt das Risiko eines tödlichen Herzinfarkts in den vergangenen Jahren deutlich gesenkt werden, für Frauen unter 55 Jahren steigt aber entgegen des Trends die Zahl tödlicher Herzinfarkte derzeit an. Zu vermuten ist, dass veränderte Lebensgewohnheiten von Frauen wie die Einnahme von Hormonpräparaten oder der steigende Anteil von Raucherinnen hier als "neue" Risikofaktoren wirken.

Andere Symptome

Bei Frauen kündigt sich zudem der Herzinfarkt - anders als bei Männern - vor allem mit Atemnot, Kieferschmerz, Übelkeit oder Erbrechen an. Solange aber der Herzinfarkt vor allem als "Männerkrankheit" gilt, werden die geschlechtstypischen Symptome nicht ausreichend erforscht und werden zum Teil weder von den Frauen selbst noch von der ÄrztInnen als Vorboten rechtzeitig erkannt. Frauen unter 55 Jahren sind zwar seltener von Herzinfarkt betroffen als Männer, ihr Risiko, daran zu versterben, ist jedoch fast doppelt so hoch. Die Miteinbeziehung der spezifisch weiblichen Lebenssituation in Diagnostik und Therapieverlauf sollte einen integralen Bestandteil der Behandlung darstellen. Damit zum Beispiel auch eine Frau mit Kleinkindern einen Kuraufenthalt, oder auch nur Spitalsaufenthalt machen kann.

dieStandard.at: Aus welcher Motivation heraus haben sie die Plattform "Frauen für Frauen" - Brennpunkt Gesundheit gegründet? Gab es vielleicht einen Anlassfall oder Ãhnliches?

Gutierrez-Lobos: Die Plattform will im Gesundheitssystem Rahmenbedingungen schaffen, die den Bedürfnissen von Frauen als Patientinnen und Ärztinnen besser entsprechen. Die aktuelle Situation im Gesundheitswesen ist gekennzeichnet von der Abnahme öffentlicher Ausgaben, Anstieg von Gebühren, Einschränkung öffentlicher Gesundheitsdienste und zunehmender Privatisierung. Solange geschlechtsspezifische Unterschiede im Gesundheitswesen und zwar sowohl auf Seiten der PatientInnen als auch auf Seiten des Fachpersonals nur unzureichend berücksichtigt werden, resultieren daraus Mängel in der gesundheitlichen Versorgung, die erhebliche Kosten verursachen: Männer wie Frauen werden fehl-, unter-, ebenso wie überversorgt. Das drückt zum Beispiel dadurch aus, dass Frauen nachweislich weniger von rehabilitativen Leistungen profitieren.

Darüber hinaus setzt sich die Plattform für die Förderung von Frauen in Gesundheitsberufen ein. Mehr als 60 Prozent der MedizinstudentInnen sind weiblich, bei den FachärztInnen sinkt dieser Anteil auf ca. 1/3 ab; unter den ProfessorInnen und PrimarärztInnen gibt es nur mehr etwa 9 Prozent Frauen.

dieStandard.at: Welche Maßnahmen, sei es im Gesetz, in der Lehre oder in der Praxis, halten Sie für notwendig, um die Situation von Patientinnen zu verbessern?

Gutierrez-Lobos: Der Grundsatz des "Gender Mainstreaming", d.h. die Perspektive des Geschlechterverhältnisses muss in alle Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden und alle Entscheidungsprozesse müssen für die Gleichstellung der Geschlechter nutzbar gemacht werden. Das bedeutet vermehrt spezifische Bedürfnisse der Patientinnen zu erheben, um damit ihre speziellen Ressourcen identifizieren zu können und gleichzeitig die Frauenförderung in der Medizin beispielsweise über finanzielle Anreizsysteme und Mentoringprogramme, verbesserte Arbeitszeitmodelle und adäquate Möglichkeiten der Kinderbetreuung voranzutreiben. Wichtig ist es außerdem, die Forschung im Bereich der Medikamentenentwicklung hinsichtlich geschlechtspezifischer Aspekte zu forcieren. Es sollte nach internationalem Standard auch in der stationären Behandlungssituation eine Wahlmöglichkeit zwischen weiblichen und männlichen Personal bestehen.

Betonen muß man, dass eine geschlechterdifferenzierte Sichtweise in der Medizin zu geschlechtsadäquater Gesundheitsförderung und Prävention beiträgt, eine differenzierte Diagnostik ermöglicht und so die Qualität der Behandlung für Männer und Frauen erhöht.

dieStandard.at: Gibt es bereits Erfolgserlebnisse für ihre Arbeit? In welchen Bereichen hat sich die Situation verbessert?

Gutierrez-Lobos: Insbesonders hinsichtlich Diskriminierung und Vorurteilen gegenüber Medizinerinnen geht nur wenig voran. Es wird im Herbst eine Tagung zum Thema geschlechtsspezifische Aspekte der Lehre in der Medizin an der Uni geben. Es gab auch schon Tagungen und Veranstaltungen zu Frauengesundheit, die ein breites Publikum sensibilisierten. (freu)