Einer der vielen hundert Urstichlinge, die Michael Bell aus den Schlammablagerungen des Lake Truckee geborgen hat. Der Fossilienvergleich führte zu überraschenden Entdeckungen.

Foto: Foto: Michael Bell

Es schien einfach und logisch: Evolution, so glaubte Vorjahrsjubilar Charles Darwin, ist ein stetiger, langsamer Prozess. Angetrieben von den Kräften der natürlichen Selektion verändern sich Arten so lange, bis neue Spezies entstehen. Anatomische Besonderheiten wie Vogelfedern oder Walfluken bildeten sich demnach im Verlauf zahlloser Tiergenerationen. Radikale, plötzliche Änderungen - Fehlanzeige.

So weit die einfache Theorie - die Realität sieht komplizierter aus. Eine neue, in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins "Journal of Fish Biology" (Bd. 75, S. 1977) publizierte Studie des Paläontologen Michael Bell zeigt, dass evolutionäre Prozesse sehr wohl sprunghaft stattfinden können.

Anhand von außergewöhnlich gut erhaltenen Fossilien hat der Forscher von der Stony Brook University im US-Bundesstaat New York praktisch jede Veränderung im Körperbau des prähistorischen Stichlings Gasterosteus doryssus über einen Zeitraum von mehr als 100.000 Jahren exakt aufgezeichnet. Die Ergebnisse hätten Darwin zu denken gegeben.

G. doryssus war mit den heutigen, auch in Österreich vorkommenden Dreistacheligen Stichlingen (G. aculeatus) nah verwandt. Die Kleinfische lebten vor etwa zehn Millionen Jahren im Lake Truckee, einem ausgedehnten urzeitlichen See im Südwesten der heutigen USA.

Der See der Versteinerungen

Das längst verschwundene Gewässer beschäftigt die Wissenschaft schon seit Jahrzehnten. Die von ihm hinterlassenen und nunmehr versteinerten Schlammablagerungen sind besonders fein laminiert. Jedes Jahr hat eine eigene Sedimentdoppelschicht hinterlassen. Darin eingebettet liegen zahlreiche, nur wenige Zentimeter lange G.-doryssus-Skelette. Dank der Schichtung lässt sich deren Alter sehr präzis datieren.

Ähnlich wie die modernen Stichlinge zeigte sich die Art überaus anpassungsfähig. Michael Bell und Kollegen fanden eine Hauptform (die Abstammungslinie I) sowie einen zweiten, meist viel selteneren Typus, die Linie II. Letztere bewohnte den Uferbereich und ernährte sich dort wohl von bodenlebenden Wirbellosen, während die erste Form als Planktonfresser im offenen See gelebt haben dürfte.

Linie I verfügte über eine auffällige Besonderheit im Knochenbau: Der sogenannte Beckengürtel und sein Dornfortsatz am Bauch waren weitgehend reduziert oder fehlten komplett. Zudem hatten diese Tiere oft weniger als drei Rückenstacheln. Diese verringerte Rüstung war für die Beweglichkeit im Freiwasser sicherlich von Vorteil. Die ufernah lebenden Vertreter der Linie II dagegen konnten sich vermutlich zwischen Wasserpflanzen verstecken. Schnelligkeit spielte offenbar keine so große Rolle wie der Besitz von wehrhaften Stacheln.

Während der ersten 98.000 dokumentierten Jahre im Bestehen von Lake Truckee dominierte wie erwähnt die Linie I. Doch dann muss etwas Dramatisches geschehen sein. "Zuerst änderten sich die Abnutzungsspuren auf den Zähnen dieser Fische, was auf eine Umstellung von Plankton auf bodenlebende Beutetiere als Nahrung hinweist" , erklärt Michael Bell gegenüber dem STANDARD. Kurz darauf verschwand Linie I fast vollständig, ab da herrschte die zweite Form vor.

Rasante Auswirkungen

Auf die Anatomie der Linie II wirkten sich die Umwälzungen verblüffend schnell aus. Nach rund 2500 Jahren verschwand der Beckengürtel bei immer mehr Tieren. Wahrscheinlich besiedelten sie nun zunehmend die von der Linie I hinterlassene ökologische Nische. Der Wandel im Knochenbau fand indes nicht schrittweise statt.

Manche Stichlinge trugen noch immer einen kompletten Gürtel, während er bei anderen Exemplaren bereits fehlte. Die Ursache für dieses Entweder-oder-Prinzip dürfte ein Gen namens Pitx1 gewesen sein, welches auch bei heutigen Stichlingen noch vorhanden ist - und bei Mäusen. In mutierter Form verursacht es mangelhaften Knochenwuchs im Beckenbereich.

Evolution, meint Michael Bell, scheint manchmal doch in großen Schritten erfolgen zu können. Wenn Gene von zentraler Bedeutung mutieren, mögen daraus "hoffnungsvolle Monster" mit außergewöhnlichen Fähigkeiten hervorgehen: die schlagartige Geburt einer neuen Spezies. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Printausgabe, 5. 1. 2010)