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Wagenknecht 2009 auf dem Parteitag der Linkspartei: "Wenn man sich die Politik von Rot-Grün der großen Koalition und jetzt von Schwarz-Gelb anschaut, dann ist das eine Kontinuität: Lohndumping, Sozialraub, Steuersenkungen für Reiche. Die einzige Partei, die diese neoliberale Ausrichtung nicht mitträgt, ist die Linke."

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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) besucht im März 2009 die Opel-Mitarbeiter in Rüsselsheim im März 2009. Nach monatelangen Verhandlungen um einen Verkauf Opels, entschied sich General Motors im November 2009 dafür, den Autobauer doch zu behalten. Die Zukunft Opels ist noch immer ungewiss. Wagenknecht: "Dieses Trauerspiel zeigt, um wie viel besser es gewesen wäre, öffentliche Anteile zu erwerben und damit tatsächliche Mitsprache zu haben."

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Der Parteivorsitzende Oskar Lafontaine bei einer Wahlkampfveranstaltung der Linken. Nicht zuletzt an seiner Person lag es, dass die Linke bei Bundestagswahl 2009 ihr bisher bestes Ergebnis einfahren konnte. Danach trat er als Fraktionsvorsitzender seiner Partei ab und musste sich einer Krebs-OP unterziehen. Wagenknecht: "Das Wichtigste ist jetzt, dass Oskar Lafontaine der Linken als Parteivorsitzender erhalten bleibt."

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Der Linken-Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi (o.li.) gemeinsam mit dem Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD, o. re.) während der Bundespräsidentenwahl 2009, bei der die Linke mit dem Schauspieler Peter Sodann (Mi.) einen eigenen Kandidaten aufgestellt hatte. Gysi war 2002 auch kurzzeitig Wirtschaftssenator des chronisch klammen Berlins in einer rot-roten Koalitionsregierung unter Wowereit, die auch heute noch besteht. Wagenknecht: "Es gibt seit Jahren Druck der Bundespartei auf die Berliner Linke, diesen unsäglichen Kurs nicht fortzuführen."

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Wagenknecht mit dem damaligen Bundesgeschäftsführer der PDS, Dietmar Bartsch, bei einer Parteisitzung nach der Niederlage bei der Bundestagswahl 2002. Bartsch ist heute Bundesgeschäftsführer der Linken und steht für einen SPD-freundlichen Kurs der Partei. Wagenknecht: "Die Leute, die für einen solchen Schwenk in unserer Partei kämpfen, haben es damals geschafft, mit diesem Kurs die Partei unter die Fünf-Prozent-Hürde zu drücken. Das ist eine Erfahrung, die wir nicht wiederholen sollten"

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Wagenknecht legt bei der letztjährigen Gedenkveranstaltung zum Tode von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Jahr 1919 Nelken an der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde nieder. "Sich als Marxist zu verstehen, heißt, dass man sich nicht im Kapitalismus einrichtet, sondern versucht, eine andere Wirtschaftsordnung zu erreichen."

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Sahra Wagenknecht ist eine der streitbarsten und im Streit geübtesten Politikerinnen der Linkspartei. Als prominenteste Vertreterin der Kommunistischen Plattform stand sie bisher selbst innerhalb ihrer Partei am äußersten linken Rand des politischen Spektrums. Seit der Bundestagswahl im vergangenen Jahr sitzt Wagenknecht erstmals als Abgeordnete der Linkspartei im Bundestag. Im Interview mit derStandard.at spricht sie über die Fehler der Bundesregierung bei der Bewältigung der Bankenkrise sowie der Rettung von Opel und die ideale Gesellschaftsordnung, in der sich der Staat eben nicht heraushalten dürfe. Sie wehrt sich gegen diejenigen in ihrer Partei, die die Linkspartei für weitere Bündnisse mit der SPD fit machen möchten. Die gebürtige Jenenserin spricht darüber, was an den Einrichtungen der gewesenen DDR auch heute noch vorbildhaft sein könnte. Worüber sie nicht spricht sind Spekulationen über ein angebliches persönliches Verhältnis zum Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine. Fragen dazu nicht zu stellen war Bedingung für das Interview.

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derStandard.at: Laut einer jüngst veröffentlichten Studie gibt inzwischen über 70 Prozent der deutschen Bevölkerung dem kapitalistischen Wirtschaftssystem die Schuld an der Krise. Wie sehr freut es Sie, dass Ihre Ansichten sich mittlerweise in der Bevölkerung durchgesetzt haben?

Sahra Wagenknecht: Der Anlass dafür ist natürlich kein Grund zur Freude. Das ist eben die akute Wirtschaftskrise, die Millionen Arbeitsplätze bedroht und sehr viele Menschen in Armut stürzt und stürzen wird. Gerade angesichts dieser Situation wird immer offensichtlicher, dass wir eine andere Wirtschaftsordnung brauchen.

derStandard.at: Muss man angesichts dieser Zahlen das Bundestagswahlergebnis von 11,9 Prozent Ihrer sich als antikapitalistisch bezeichnenden Partei die Linke nicht als enttäuschend bezeichnen?

Wagenknecht: Nein, fast zwölf Prozent für eine explizit linke und antikapitalistische Partei sind in Deutschland ein hervorragendes Ergebnis. Das sollte man nicht klein reden. Natürlich gibt es leider immer mehr Leute, die gar nicht mehr zur Wahl gehen, weil sie von allen Parteien und vom politischen System enttäuscht sind. Wir müssen diesen Menschen noch viel deutlicher spüren lassen, dass wir nicht eine Partei wie alle anderen sind, sondern für Alternativen stehen. Sie müssen erleben, dass die Linke eine vertrauenswürdige und glaubwürdige Partei ist, die keine Schweinereien mitmacht.

derStandard.at: Stichwort Glaubwürdigkeit: Im Wahlkampf trat Ihre Partei unter anderem mit dem Slogan „Reichtum für alle" und dem mit Abstand teuersten Wahlprogramm aller Parteien. Sind Sie populistisch?

Wagenknecht: Unsinn. Wir sagen auf der einen Seite, wir wollen mehr soziale Ausgaben, mehr öffentliche Investitionen und mehr öffentliche Beschäftigung. Aber wir sagen gleichzeitig auch, wie wir das finanzieren. Deswegen fordern wir ja eine Millionärssteuer, deswegen fordern wir höhere Vermögenssteuern und eine Börsenumsatzsteuer. Die jetzige Koalition ist deutlich unseriöser in ihrer Politik, indem sie jetzt auf der einen Seite Steuern senkt, aber den Leuten nicht sagt, wie sie das finanzieren will.

derStandard.at: In den Ländern Berlin und Brandenburg sitzt die Linke mit der SPD in der Regierung und hat beispielsweise die Finanzpolitik eines Thilo Sarrazin mitgetragen. Sind das nicht die Schweinereien, die sie nicht mehr mittragen wollen?

Wagenknecht: Ja. Deswegen gibt es ja auch seit Jahren Druck der Bundespartei auf die Berliner Linke, diesen unsäglichen Kurs nicht fortzuführen. Und deshalb gab es massive innerparteiliche Kritik am Brandenburger Koalitionsvertrag. Das Problem einer Koalition mit der SPD ist, dass diese Partei schlicht für neoliberale Politik steht. Insoweit ist es schwierig mit der SPD eine Koalition auf Länderebene zu bilden, die tatsächlich einen Politikwechsel bewirkt. Vom Bund ganz zu schweigen. Man kann das natürlich versuchen, nur wenn sich zeigt, dass die SPD soziale Politik nicht mitträgt, sondern die Politik fortführt, die sie auch mit der CDU machen könnte, müssen wir uns dem verweigern.

derStandard.at: Sie haben im Frühsommer 2009 auf dem Parteitag gesagt, den Menschen müsse klar werden, dass die Linke mehr sei als ein "gefälliges Gewürzkorn in der neoliberalen Einheitssuppe". Worin besteht denn dieses Mehr, das ihre Partei von anderen abhebt?

Wagenknecht: Wenn man sich die Politik von Rot-Grün der großen Koalition und jetzt von Schwarz-Gelb anschaut, dann ist das eine Kontinuität: Lohndumping, Sozialraub, Steuersenkungen für Reiche. Die einzige Partei, die diese neoliberale Ausrichtung nicht mitträgt, ist die Linke. Wir kämpfen dagegen, die Situation von Hartz-IV-Empfängern noch weiter zu verschlechtern. Aber wir sagen auch nicht nur, Hartz IV muss etwas erhöht werden. Wir sagen: Hartz IV muss weg. Wir sind nicht nur dagegen, das Engagement in Afghanistan aufzustocken, sondern wir sagen: Raus aus Afghanistan. Wir wollen eine grundlegend andere Politik und eine andere Wirtschaftsordnung.

derStandard.at: Mit dem Rücktritt des damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Jung sind inzwischen personelle Konsequenzen innerhalb der Regierung aus dem Luftangriff von Kundus gezogen worden. Welche weiteren fordern Sie?

Wagenknecht: Die einzig richtige Konsequenz wäre, dass dieser Kriegseinsatz beendet wird und die deutsche Soldaten abgezogen werden. Es ist auch nach wie vor die Frage zu klären, was die Bundeskanzlerin, der jetzige Verteidigungsminister und der damalige Außenminister wussten. Jung ist wahrlich nicht der einzige, der für diesen Krieg Verantwortung trägt. Und die konkrete Entscheidung damals wurde ja wochenlang von anderen gedeckt, die offenbar davon wussten.

Der eigentliche Skandal ist, dass unter deutscher Verantwortung wie in Kundus Zivilisten ermordet werden und dieser Krieg so weitergeht wie bisher. Dieser Krieg schürt Hass und bewirkt letztlich, dass die Taliban sogar in Bevölkerungskreisen Rückhalt bekommen, die ihnen vorher ablehnend gegenüber standen. Wenn man dem Land wirklich helfen möchte, muss das viele Geld, das jetzt fürs Militär hinausgeworfen wird, in zivile Entwicklungsunterstützung fließen.

derStandard.at: Unlängst wurde im Bundestag das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet. Es enthält neben Kindergeld- und Kinderfreibetragserhöhungen auch die umstrittene Mehrwertsteuersenkung fürs Hotelgewerbe, Erleichterungen bei Erbschafts- und Umsatzsteuer. In Summe eine Entlastung von 8,5 Milliarden Euro. Klingt doch gut, oder?

Wagenknecht: Das sind aber Entlastungen, die bei den Falschen ankommen. Eine Durchschnittsfamilie hat für ihr Kind 20 Euro mehr, Besserverdienende bekommen dagegen 40 Euro. Hartz-IV-Empfänger gar nichts. Die Erbschaftssteuern sind im internationalen Vergleich in Deutschland sehr niedrig. Wenn man da jetzt noch ein Geschenk draufsetzt, ist völlig klar, wem das zugutekommt: Menschen, die sehr hohe Erbschaften beziehen und das sind die Reichen. Bei den Unternehmenssteuern gibt es jetzt eine weitere Entlastung für die großen Konzerne. Das ist eine Politik, die schon in der Vergangenheit nicht zu Wachstum geführt hat. Wer das jetzt fortführt, hat nichts begriffen. Oder will nichts begreifen.

derStandard.at: Die Unternehmervertretung in Österreich, die Wirtschaftskammer, hatte den Slogan „Geht's der Wirtschaft gut, geht's uns allen gut." Und es ist auch historisch belegt, dass Wirtschaftswachstum mittelbar in Summe zu Wohlstandssteigerungen bei allen Bevölkerungsschichten führt. Warum sollen Unternehmen gegängelt werden, gerade in Zeiten der Krise?

Wagenknecht: Also zunächst einmal: Mit diesem Slogan aufzutreten, würde sich in Deutschland wahrscheinlich noch nicht einmal der BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie, Anm.) trauen. Gerade der letzte Wirtschaftsaufschwung in Deutschland von 2005 bis 2007 ist damit einhergegangen, dass die Reallöhne gesunken sind, dass die Renten gesunken sind und dass Sozialleistungen abgebaut wurden. Hohe Gewinne ziehen eben nicht automatisch oder überhaupt irgendwie einen gesellschaftlichen Vorteil für die Mehrheit der Menschen nach sich. Die einzige Folge ist, dass die oberen Zehntausend noch reicher werden.

derStandard.at: Was ist denn für Sie die ideale Gesellschaftsordnung? Ist das der Kommunismus und wie wollen Sie ihn erreichen?

Wagenknecht: Der Kommunismus ist ja kein reales politisches Ziel. Sich als Marxist zu verstehen, heißt, dass man sich nicht im Kapitalismus einrichtet, sondern versucht, eine andere Wirtschaftsordnung zu erreichen. Eine, die in Kernbereichen auf öffentlichem Eigentum beruht und deshalb andere Prioritäten jenseits reiner Profitorientierung setzen kann. Das ist für mich der Sozialismus. Hinzu kommt: Als Opposition darf man sich nie nur als Regierung im Wartestand begreifen, sondern muss die Regierung immer auch außerparlamentarisch unter Druck setzen. Arbeitskämpfe mit politischem Inhalt und politischer Streik sind zum Beispiel in Frankreich viel selbstverständlicher. Das brauchen wir in Deutschland, wenn sich die Menschen nicht immer wieder von Regierungen über den Tisch ziehen lassen wollen.

derStandard.at: Sie fordern andere Formen wirtschaftlichen Eigentums. Für wie realistisch halten Sie es denn unter den gegebenen Umständen, dass das auch irgendwann passiert?

Wagenknecht: Auch konservative Ökonomen wie Hans Werner Sinn fordern ja inzwischen eine Verstaatlichung der Banken. Man hat in die Banken in Deutschland inzwischen weit über 100 Milliarden Euro versenkt und nicht einmal erreicht, dass sie ihre wichtigste Aufgabe wahrnehmen: die Kreditversorgung der Wirtschaft zu sichern. Das ist eine völlig absurde Politik. Die vielen Schrottpapiere, die sich die Privatbanken aufgeladen haben, haben etwas mit hohen Renditeansprüchen zu tun.

Renditen von 25% und mehr erreicht man natürlich nicht mit Mittelstandskrediten, sondern mit Zockerei auf den Finanzmärkten. Und das geht jetzt weiter. Das zeigt, dass der Renditewahn am Ende volkswirtschaftlich absolut destruktiv ist. Auch General Motors hat Opel jahrelang finanziell ausgelaugt, um Renditeansprüche der eigenen Aktionäre erfüllen zu können.

derStandard.at: Während selbst US-Präsident Obama General Motors teilverstaatlicht hat, um den Konzern zu retten, hat die Bundesregierung bei Opel diesen Schritt nicht getan. Woran liegt es, dass in Deutschland offenbar noch mehr an die Kräfte des freien Markts geglaubt wird, als im Heiligen Land des Kapitalismus?

Wagenknecht: Warum die Bundesregierung so entschieden hat, muss sie erklären. Auf jeden Fall hat sich im Nachhinein gezeigt, dass diese Entscheidung falsch war. Wenn man im Frühjahr den Überbrückungskredit von 1,5 Milliarden Euro mit öffentlicher Beteiligung verbunden hätte, dann hätte General Motors jetzt nicht so mit der öffentlichen Hand und den Beschäftigten umspringen können. General Motors erpresst die europäischen Regierungen und spielt sie gegeneinander aus, um öffentliches Geld für ein Sanierungskonzept zu bekommen, was niemanden überzeugt und massenhaft Arbeitsplätze vernichtet. Dieses Trauerspiel zeigt, um wie viel besser es gewesen wäre, öffentliche Anteile zu erwerben und damit tatsächliche Mitsprache zu haben.

derStandard.at: Gregor Gysi hat einmal gesagt, sie könnten in der Partei Die Linke nun das werden, was Sie in der PDS nie geworden sind. Sind die dazugekommenen westdeutschen Genossen in der Linke kommunistischen Ideen gegenüber aufgeschlossener?

Wagenknecht: Es geht nicht um kommunistische Ideale, sondern um konsequente linke Politik. Fakt ist, dass die Linke sich hier klarer positioniert, als es in der PDS der Fall war. Das, was ich vertrete, ist in vielen Fragen heute Politik der Partei. Das war früher in der PDS nicht immer so.

derStandard.at: Oskar Lafontaine steht wie kaum ein zweiter in Ihrer Partei für Radikalopposition und eine klare Abgrenzung zur SPD. Daneben gibt es andere in der Partei, wie Dietmar Bartsch oder Bodo Ramelow, die die Partei mit der SPD bündnisfähig machen wollen. Sehen Sie die Gefahr, dass sich mit dem Abtritt Lafontaines vom Fraktionsvorsitz die Kräfteverhältnisse in diese Richtung verschieben?

Wagenknecht: Es gibt bisher keinen Abtritt Lafontaines vom Parteivorsitz und ich hoffe sehr, es wird auch keinen geben. Wenn die Linke auf eine Anbiederung an die SPD umschwenkt, dann macht sie sich überflüssig. Die Leute, die für einen solchen Schwenk in unserer Partei kämpfen, haben schon einmal eine Partei geprägt, nämlich die PDS. Und sie haben es damals geschafft, mit diesem Kurs die Partei unter die Fünf-Prozent-Hürde zu drücken. Das ist eine Erfahrung, die wir nicht wiederholen sollten und ich glaube auch nicht, dass man dafür Mehrheiten in der Linken gewinnen kann.

derStandard.at: Von Seiten Lafontaines heißt es, seine Erkrankung habe nichts mit dem Rückzug vom Fraktionsvorsitz zu tun. Offiziell gibt er als Grund eine ungesunde Ämterhäufung an. Die bestand doch aber auch schon vor der Bundestagswahl und war damals offenbar kein Problem für Lafontaine. Woher dieser plötzliche Sinneswandel?

Wagenknecht: Der einzige, der behauptet hat, der Rückzug habe nichts mit der Erkrankung zu tun, war Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch. Natürlich stimmt es allgemein, dass nicht einer immer alles machen kann. Wenn es eine vernünftige Arbeitsteilung gibt, wird das für die Partei kein Schaden sein. Das Wichtigste ist jetzt, dass Oskar Lafontaine der Linken als Parteivorsitzender erhalten bleibt. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

derStandard.at: Sie haben im Jahr 2001 als einzige im Parteivorstand gegen die Erklärung zum Mauerbau gestimmt. Fällt es Ihnen schwer, mit dem SED-Sozialismus abzuschließen?

Wagenknecht: Es geht darum, mit der Geschichte der DDR seriös umzugehen. Das heißt nicht, die Mauer im Nachhinein zu rechtfertigen. Sondern sich genau anzusehen, wer für was verantwortlich war. Natürlich ist die Mauerentscheidung auch, aber nicht nur in der DDR getroffen wurden. Die Sowjetunion hatte da ein gewichtiges Wort mitzureden. Ich bin sehr dafür, die Geschichte der DDR kritisch zu analysieren. Dies muss aber fair erfolgen und darf sich nicht in Demutsbekundungen erschöpfen.

derStandard.at: Was war denn gut und ist für Sie heute noch vorbildhaft an der gesellschaftlichen Ordnung der DDR?

Wagenknecht: Der Sozialismus ist schon deswegen nicht mit der DDR gescheitert, weil es kein Sozialismus war. Die DDR war wirtschaftlich überzentralisiert und hat die Demokratie ausgehebelt. Das war nicht das System, was ich anstrebe. Aus dem Scheitern der DDR aber den Schluss zu ziehen, sich mit dem Kapitalismus abfinden zu müssen, ist daher völlig verquer. Ungeachtet dessen gab es im Bildungssystem, bei der Gleichberechtigung der Frauen und in anderen Bereichen in der DDR Entwicklungen, die progressiver waren als in der Bundesrepublik. Es war selbstverständlich, dass man Familie und Beruf vereinbaren konnte. Eine Schule, in der Kinder zehn Jahre lang gemeinsam lernen, ist deutlich besser, als eine, in der nach der vierten Klasse schon ausgelesen wird. Gesundheit war in der DDR auch nie eine Frage des Geldbeutels, was sie heute zunehmend ist.

derStandard.at: Sie haben in der Diskussionsrunde "Unter den Linden" zum Anlass des 20. Jahrestages des Fall der Berliner Mauer unter anderem davon gesprochen, dass für die meisten Menschen Freiheit auch heute noch nicht verwirklicht ist, beispielsweise durch Auskunftspflichten gegenüber staatlichen Behörden. Wie schwer wiegt das im Vergleich mit der Verweigerung elementarer Freiheitsrechte in der DDR?

Wagenknecht: Ich würde das gar nicht gegeneinander aufwiegen wollen. Es ist unbestreitbar, dass in der DDR elementare Freiheitsrechte beschnitten wurden. Allerdings ist es eine Tatsache, dass auch heute grundlegende Rechte nicht für alle in gleicher Weise gelten. Wer Hartz IV-Empfänger ist, muss sich gefallen lassen, dass sein Privatleben bespitzelt wird, dass er seine Kontoauszüge offenlegen muss. Auch die Freiheit, sich beruflich zu entwickeln, existiert nur für diejenigen, die einen Arbeitsplatz bekommen. Und die Drangsalierung von Beschäftigten in Unternehmen wie Lidl ist keine Lappalie, über die man hinweggehen kann.

Ich will damit nicht relativieren, was in der DDR geschehen ist. Ich sage weder, dass die vergangenen Bespitzelungen in der DDR weniger schlimm waren, weil heute auch bespitzelt wird. Noch sage ich, dass man diese Dinge heute rechtfertigen kann, weil es früher noch schlimmer war. Ich bin nicht bereit, über heutiges Unrecht mit Verweis auf die Geschichte hinwegzusehen. Und politisch kämpfe ich vor allem gegen die Dinge, die heute existieren. (Andreas Bachmann, derStandard.at, 11. Jänner 2010)