Bild nicht mehr verfügbar.

Der ungehinderte globale Fluss von Waren und Informationen entfesselt die ökonomischen Produktivkräfte und weckt Ängste, mit denen Populisten leichtes Spiel haben. Der Blick zurück - hier ein Foto von der Neujahrsparty 2000 in Frankfurt am Main - stimmt wenig optimistisch: An Problemen herrschte im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends kein Mangel.

Foto: Reuters/Pfaffenbach

Willkommen im Jahr 2010. Der Magie der runden Zahl und der Versuchung, den Rückblick mit dem Jahr 2000 einsetzen zu lassen, wollen auch wir uns nicht entziehen, obwohl alle Leitmotive der Gegenwart schon lange vor 2000 angeklungen sind: Terror, Internet-Revolution, Finanzkrise, Krise des Westens überhaupt. Gute Presse hat das Jahrzehnt bei seinem Abgang zu Recht keine: Für den Spiegel geht "eine Dekade der Unvernunft" zu Ende, für das das Time Magazine war es "ein höllisches Jahrzehnt" , ja sogar "die schrecklichste Dekade" seit dem Zweiten Weltkrieg.

Hinterher, so heißt es, ist man immer klüger. Wäre man schon vorher klüger gewesen, dann hätte man sich die - bei manchen zur Endzeitangst gesteigerte - Y2K-Befürchtung sparen können, mit der dieses Dezennium anhob: Der Computer-GAU fand nicht statt, doch die Bangigkeit vor den Gefahren, denen die am Netzwerk hängenden Gesellschaften der Gegenwart ausgesetzt sind, bleibt bestehen: Im Jahr 2010 nennt der erste schwarze US-Präsident - eine der wenigen guten Errungenschaften der Dekade -, Barack Obama, die "cyber security" als einen Schwerpunkt seiner Präsidentschaft. Der technische Fortschritt bringt aber auch das iPhone und immens populäre "Web 2.0" -Applikationen wie Facebook oder Twitter. Google weitet sein Reich stetig aus und bekommt Gegenwind: Der Plan, den Buchbestand der Welt einzuscannen, ohne lang bei Autoren oder Verlagen nachzufragen, weckt die Furcht vor einem unkontrollierbaren Digital-Hegemon. Zwischen den Branchenriesen - Apple, Google, Amazon, Microsoft - zeichnet sich eine neue gigantische Schlacht auf dem Feld des "cloud computing" ab.

Zurück ins Jahr 2000: George W. Bush wird nach einem erbitterten Streit vor den Gerichten zum US-Präsidenten gewählt. Sein Kontrahent Al Gore, damals noch nicht als Mister Klimaschutz bekannt, bleibt trotz eines satten Stimmenplus bei den Wählern vor Gericht auf der Strecke. Bush junior wird dem Jahrzehnt seinen Stempel aufdrücken, wenn auch nicht auf die Art, die er vielleicht angestrebt haben mag. Er empfiehlt sich dem US-Wahlvolk als Einheitsstifter, zementiert aber den Antagonismus zwischen dem konservativen und dem liberalen Amerika bis zum heutigen Tage ein. 2010 sind die einst stolzen Republikaner ein Schatten ihrer selbst. Darüber kann auch der zeitweilige Medientumult um Sarah Palin, die politisch unbedarfte, aber mit einem großen Mundwerk begabte Gouverneurin aus Alaska nicht hinwegtäuschen.

Nach dem 11. 9. 2001 trifft Bush eine Reihe von Entscheidungen und Fehlentscheidungen mit gravierenden Konsequenzen. Der brachiale, zum Teil im rechtsfreien Raum geführte "Krieg gegen den Terror" (Stichworte: Guantánamo, Abu Ghraib) treibt einen tiefen Keil zwischen die USA und Europa bzw. die islamische Welt und ist Wasser auf die Mühlen von Extremisten. Anfang 2010 ist Osama Bin Laden immer noch auf freiem Fuß, Al-Kaida werkt in Afghanistan, Pakistan oder im Jemen. Riesige Terroranschläge erschüttern Madrid, Mumbai, London. Im neuen Typus des "asymmetrischen Krieges" haben die Angreifer das Überraschungsmoment auf ihrer Seite: kleine Ursachen, große Wirkungen. Mit böser Software kann man Armeen lahmlegen, mit ein paar Gramm Sprengstoff ein Flugzeug zur Bombe machen. Das Jahr 2009 geht mit einem Attentatsversuch in Detroit zu Ende, das der Welt vor Augen führt, dass die internationale Sicherheitsmaschinerie vor einem "systemischen Versagen" keineswegs gefeit ist.

Die Globalisierung zeigt ihre Janusköpfigkeit: Der ungehinderte globale Fluss von Waren und Informationen entfesselt die ökonomischen Produktivkräfte und erschwert Diktatoren und Autokraten das Handwerk. Aber die Globalisierung weckt auch massive, teilweise berechtigte Ängste: vor unkontrollierbaren Migrationsströmen, sich ausbreitender Kriminalität oder Viren, die sich in Windeseile über den ganzen Erdball verbreiten. Populisten wie Berlusconi, Blocher und Konsorten spielen auf solchen Ängsten Klavier.

Üble Hebelwirkungen versetzen auch dem (Turbo-)Kapitalismus einen dramatischen Dämpfer. Jahrelang haben die Investmentbanker mit Produkten, die sie selbst nicht verstanden haben, eine Immobilien- und Finanzblase aufgezogen, die im Jahr 2008 mit Getöse platzt. Die Welt schrammt am Rande einer globalen Wirtschaftskrise vorbei. Das ganze Jahrzehnt hindurch entpuppen sich großmächtige Management- oder Finanzfiguren wie Kenneth Lay oder Bernie Madoff als ordinäre Wirtschaftskriminelle. Die Staaten eilen den Banken mit Feuerwehraktionen zu Hilfe, die Steuerzahler werden zur Kasse gebeten. Erst herrscht Demut und Zerknirschung, doch von einem anhaltenden Gesinnungswechsel bei den Bankern ist nichts zu merken: Mit Präpotenz und Bonusfrechheiten bringen sie die Politik bis hin zu Merkel und Obama gegen sich auf. Ein internationales Finanzregime, das Gier- und Spekulationsexzesse verhindern würde, lässt auf sich warten.

Die atomare Gefahr ist nicht gebannt: Das Steinzeitregime in Nordkorea spielt sein politisches Spiel mit der Bombe ebenso wie der von massiven inneren Konflikten geschüttelte Iran. Auch für den Nahostkonflikt, der im Gaza-krieg 2008 kulminiert, ist die Nullerdekade ein verlorenes Jahrzehnt: An der grundlegenden Konfliktlage hat sich unter George W. Bush ebenso wenig geändert wie bisher unter Barack Obama.

Parallel zum relativen Bedeutungsverlust des Westens erleben Länder wie Brasilien oder China einen Aufschwung. In China wird kapitalistisches Wirtschaften nach wie vor mit einem genuin leninistischen Politikverständnis kombiniert: Ende 2009 sorgt die Verurteilung des Dissidenten Liu Xiaobo zu elf Jahren Haft weltweit für Empörung. Nach langem Hin und Her bringen die Europäer endlich den Vertrag von Lissabon unter Dach und Fach und wählen eine ebenso unauffällige wie uncharismatische Führungsriege.

Schreckliche Naturkatastrophen prägen die Dekade: Ende 2004 fordert ein Tsunami mehr als 200.000 Tote. Ein paar Monate später verwüstet der Hurrikan "Katrina" New Orleans: Das irre Krisenmanagement danach wird zu einem Fanal für die Bush-Regierung. Die Natur schlägt mit Wucht zurück - dennoch mündet der Klimagipfel von Kopenhagen, der am Ende des Jahrzehnts die Schlagzeilen beherrscht, in ein Debakel: Außer ein paar frommen Absichtsbekundungen gibt es keine greifbaren Ergebnisse.

Die Nullerjahre - niemand wird ihnen nachtrauern - sind vorüber, die Probleme, die sie geprägt haben, bleiben. Ob die Politik in der näheren Zukunft bessere Wege finden wird, sich ihnen zu stellen? Vor uns liegen die Zehnerjahre: Fortsetzung folgt. Christoph Winder, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 02./03.01.2010)