Ausblick auf mögliche neue Konstellationen: Jo (Mati Diop) und Noë (Grégoire Colin) in "35 Rum"

 

Foto: Filmladen

Wien – Die Geborgenheit könnte kaum größer sein. Wenn der Metrofahrer Lionel (Alex Descas) von der Arbeit heimkommt, wartet immer schon Joséphine (Mati Diop) mit einem verstohlenen Lächeln auf ihn. Seine Patschen liegen bereit, auch das ein Zeichen gut eingeübter Routinen. Man könnte glauben, die beiden seien ein Ehepaar, sie sind jedoch Vater und Tochter. Ihre Wohnung in einem Pariser Außenbezirk wirkt wie eine kleine Festung, in die nicht einmal Freunde so einfach Zugang erhalten.

"35 Rum" ist der vorletzte Film der französischen Regisseurin Claire Denis, ihr jüngster, "White Material", der in Afrika spielt, war unter anderem bei der Viennale zu sehen. Ersterer wurde etwas zu Unrecht als Nebenwerk abgestempelt, nur weil darin der soziale Ausschnitt enger gefasst ist, ein privaterer, sanfterer, auch erzählerisch weniger brüchiger Gestus vorherrscht. Dem kann man entgegnen: Genau das ist der Punkt. Denis entwirft über das Verhältnis von Lionel und Jo Einsichten ins Dasein einer frankokaribischen (Familien-)Gemeinschaft, das ganz ohne die Aufregungen sozialen Außenseitertums auskommt.

Es sind oft nonverbale Zeichen, Blicke und Gesten innerhalb eines meist harmonischen Miteinanders, denen der Film seine Aufmerksamkeit schenkt. Lionel erkennt, dass es für Jo Zeit wird, ihn zu verlassen: Er möchte ihr Freiheit gewähren. Wie ein Lebensabschnitt seinem Ende zugeht, davon erzählt "35 Rum" ohne dramatische Einschnitte, sieht man vom Selbstmord eines Kollegen ab, der im Ruhestand in eine Depression fällt. In ruhigen Szenen, die von Stuart Staples' Musik begleitet werden, führt der Film vor, wie schwer es ist, von etwas zu lassen, das dem Glück sehr nahe kommt.

"35 Rum" ist auch eine versteckte Hommage Denis' an den japanischen Modernisten Yasujiro Ozu, der sich in seinen Filmen für den Alltag in bürgerlichen Lebenswelten interessierte und insbesondere in "Später Frühling" von einer vergleichbaren Vater-Tochter-Beziehung erzählte. Beide Filme bieten keine Lösungen an, sondern beschreiben Konstellationen, in denen scheinbar banale Dinge wie ein Reiskocher zu emotionalen Behältnissen werden können. Das sehr zurückgenommene Spiel von Descas, der schon Denis' gesamte Karriere begleitet, hilft dabei, alle Sinne für die Gegenwart zu schärfen. Wichtig ist, was der Moment mit sich bringt.

Getanzte Sehnsucht

Besonders schön zeigt sich das in einer der dichtesten Szenen des Films. Vater und Tochter landen mit der Taxifahrerin Gabrielle (Nicole Dogue) und dem Nachbarn Noë (Grégoire Colin) eines Abends in einer Bar und beim abwechselnden Tanz der Figuren scheint eine ganze Skala an Begehrlichkeiten und Sehnsüchten auf. In diesem kurzen Moment ist "35 Rum" völlig transparent. Der launische Noë, für den Jo schwärmt, und die etwas aufdringliche Gabrielle vermögen sich in eine familiäre Ordnung einzubringen, zu der ihnen sonst immer wieder der Schlüssel fehlt.

Dennoch bleibt diese Welt stets mit einem Außen in Verbindung. Jo eignet sich im Rahmen ihres Studiums ein Wissen um postkoloniale Verhältnisse an, während Lionel in seiner Arbeit und bei seinen Kumpels Halt erfährt. Die größte Entfernung, räumlich wie ideell, überwindet der Film aber erst zum Schluss, wenn ein Ausflug nach Lübeck ansteht: zu einer Großmutter, die Ingrid Caven wie ein Wesen von einem anderen Stern verkörpert; zu einer Vergangenheit, die der Gegenwart wieder einen neuen Anfang beschert. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31.12.2009/1.1.2010)