Vic Chesnutt mit Frau Tina 2005 in der Szene Wien. Der Musiker hat sich während der Weihnachtsfeiertage das Leben genommen

Foto: STANDARD/Newald
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Wien - "Dem Umstand, dass ich mir den Hals gebrochen habe, verdanke ich mein Leben." Das war der Schlüsselsatz in vielen frühen Interviews mit dem US-amerikanischen Songwriter Vic Chesnutt. Um seinem Gesprächspartner diesen Grenzgang zwischen Zynismus und im tiefsten Keller versteckten Optimismus zu erleichtern, lächelte der Mann im Rollstuhl und legte tröstlich nach: "Hey, ohne diesen Unfall wäre ich längst tot."

Der von Adoptiveltern großgezogene Chesnutt hatte 1983 einen schweren Autounfall, nach dem er teilweise gelähmt blieb. Der damals 18-Jährige hatte kaum Erinnerungen an den Crash, denn er war sturzbetrunken. Sein Leben davor beschrieb der am 12. November 1964 in Florida geborene Musiker als das eines ziellos herumtreibenden Heranwachsenden, der sich mit Drogen, Alkohol und Musik die Zeit vertrieb.

Mit dem Song Let's Take Some Drugs And Drive Around hat der Texaner Michael Hall dieses apathisch-desperate Lebensgefühl einmal exakt eingefangen. "Genau so ein Typ war ich", meinte Chesnutt, darauf angesprochen. "Wahrscheinlich wäre ich ohne Unfall an einer Überdosis krepiert." Am 25. Dezember ist Chesnutt nun gestorben - an einer selbst zugeführten Überdosis Medikamente. Er fiel in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwachte.

Begonnen hatte seine ungewöhnliche Karriere 1990, als Michael Stipe, der Sänger von R.E.M., in seiner Heimatstadt Athens auf den musizierenden Rollstuhlfahrer aufmerksam wurde und dessen erste Alben produzierte: Little und West Of Rome. 1993 veröffentlichte er die beste Arbeit seines Frühwerks, das Album Drunk.

Darauf entfaltete sich sein milder bis bissiger Zynismus in treibenden Rockstücken ebenso wie in Balladen wie When I Ran Off And Left Her, in denen sein zärtliches Idiom mit schwarzem Humor gewürzt wurde - ein Markenzeichen Chesnutts. Dieses pflegte er auch in dem Nebenprojekt Brute, mit dem er zwei Alben herausbrachte - man höre nur God Morning Mr. Hard On.

Tribute mit Madonna

Das Naheverhältnis zu Stipe bescherte dem großen kleinen Songwriter besondere Aufmerksamkeit, was zu zwei Alben für Major-Labels führte. Wichtiger war jedoch, dass Chesnutt so Teil eines Netzwerks wurde, von dem er nicht nur künstlerisch zehrte, sondern das ihm auch bei immer wieder auftauchenden Folgekrankheiten finanziell beistand.

Etwa mit dem 1996 erschienenen Tribute-Album Sweet Relief II: Gravity Of The Situation, auf dem Bands wie Garbage, Smashing Pumpkins, R.E.M. und sogar Madonna im Verein mit ihrem Schwager Joe Henry Chesnutts Songs interpretierten. Hierzulande tourte Chesnutt mit seiner ihn am Schlagzeug begleitenden Frau Tina sowie im Verein mit befreundeten Bands wie dem Reform-Country-Kollektiv Lambchop und mit Calexico.

2007 und 2008 begleitete Chesnutt das von der Viennale vergebene Auftragswerk Empires Of Tin des US-amerikanischen Filmemachers Jem Cohen im Wiener Gartenbau Kino live.

Bis zuletzt kämpfte der leidenschaftliche Atheist erfolglos gegen die ihn hart treffenden Auswirkungen des Krankenversicherungssystems in den USA, das ihm, obwohl versichert, erhebliche Schulden und mehrere Gerichtsverfahren beschert hatte. Auch hier erfuhr er Unterstützung von befreundeten Musikerinnen wie Kristin Hersh von den Throwing Muses oder Patti Smith.

Nun verstummte James Victor Chesnutt für immer. Er wurde 45 Jahre alt. (Karl Fluch / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.12.2009)