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Wegen des Karabachkriegs schloss die Türkei 1993 die Grenze zu Armenien. Die einzige Bahnverbindung bei Akhurik ruht seither.

Foto: Reuters/David Mdzinarishvili

Es könnte die Lösung einer der letzten historischen Konflikte Europas sein, der Beginn der Versöhnung zwischen Türken und Armeniern, die Wende im Kaukasus nach dem Krieg vom Sommer 2008. Vartan Oskanian aber spricht von gescheiterter Diplomatie, einem stümperhaften Versuch, Armenien aus seiner Isolation zu reißen. "Man gibt, was man hat und dann setzt man sich hin und wartet, was die Türken tun."

Mehr als zwei Monate sind vergangen, seit die Außenminister der Türkei und Armeniens ihre Unterschrift unter zwei Protokolle gesetzt haben. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen hatten sie vereinbart und die Öffnung der gemeinsamen Grenze. Es ist das wichtigste Thema, das Eriwan in diesen Tagen beherrscht. Keine Stunde Fahrt ist es von der armenischen Hauptstadt zum Kontrollpunkt Margara am Fuß des Ararat, eine dieser vielen Sackgassen im Land. Doch für die türkische Regierung ist die politisch heikle Grenzöffnung derzeit nur einer der vielen Bälle, mit denen sie jonglieren muss.

Zehn Jahre war Vartan Oskanian Außenminister der kleinen Kaukasusrepublik am Rand Europas und wäre in seiner Amtszeit gern an diesem Punkt angelangt - die Normalisierung mit dem türkischen Nachbarn in Reichweite, das Ende der Blockade, die den Armeniern nur zwei Landwege nach Außen lässt, über Georgien oder den Iran. Jetzt vergräbt sich der 54-Jährige in einem Frust, der seine früheren Amtskollegen in Ost und West erstaunt. Die armenische Regierung mit seinem Nachfolger Eduard Nalbandian habe unnötig Zugeständnisse an die Türken gemacht, sagt Oskanian, die Verhandlungsposition im Konflikt um die Enklave Berg-Karabach ebenso verspielt wie den internationalen Druck zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs.

"Die Türken müssen den Genozid nicht mehr leugnen" , erklärt Oskanian und verweist auf die Protokolle vom Oktober. Darin ist auch die Arbeit von Regierungskommissionen vereinbart, die einen "Dialog über die historische Dimension" führen sollen und Aufzeichnungen und Archive "unparteiisch und wissenschaftlich" untersuchen würden. "Die Natur der Debatte hat sich zugunsten der Türken geändert" , meint Oskanian, die Türken könnten sich nun stets auf die Kommission berufen, die allein entscheidet, ob der Völkermord stattgefunden hat oder nicht.

Straßenproteste

Oskanians Gegnerschaft zu den Protokollen wird von der Opposition in Armenien geteilt, der kleinen Zharangutiun-Partei und der alten Daschnak-Partei im Parlament, die aus Protest darüber die Regierung verließ, vor allem aber vom Armenischen Nationalkongress des früheren Präsidenten Lewon Ter-Petrossjan; er versuchte immer wieder mit Straßenprotesten die Regierung zu stürzen. Doch an der Ratifizierung der Protokolle besteht kein Zweifel. Wenn Serge Sarkisian, der Staatschef, es will, passieren sie das Parlament.

Sarkisian will aber nicht, sollte die Regierung in Ankara weiter Vorbedingungen stellen. Ende Jänner, wenn die Höchstrichter ihr Plazet zur Normalisierung mit der Türkei gegeben haben, muss die Ratifizierung im türkischen Parlament vorangegangen sein oder die Protokolle würden gestoppt, drohte der Präsident. "Wir werden sie vielleicht einfrieren" , sagt Arman Kirakossian, der Vizeaußenminister, der die Verhandlungen mit der türkischen Seite führte und sein Amt im Übrigen schon zu Oskanians Zeiten bekleidete.

Zu keinem Zeitpunkt habe Armenien während dieser Verhandlungen mit Ankara über den Konflikt in Berg-Karabach gesprochen, den Krieg um die Enklave mit dem türkischen Bruderstaat Aserbaidschan Anfang der 1990er-Jahre. Die Türken hätten das Thema auch nie auf den Tisch gebracht, bekräftigt Kirakossian - "niemals" . Dennoch macht der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan nun eine Ratifizierung der Protokolle von einem Durchbruch bei den schon 15 Jahre währenden Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan abhängig.

Anerkennung für Erdogans Politik der Öffnung zu Armenien gibt es dabei sehr wohl; politische Beobachter in Eriwan sprechen von der größten Revolution in der Türkei seit Atatürk. Und die Hoffnung auf den wirtschaftlichen Aufschwung beschäftigt alle. Mindestens um ein Viertel würden allein die Transportkosten sinken, glaubt Misak Balasanyan, der junge Direktor der Gyumri-Bierbrauerei. Denn bisher wird die Lieferung von Maschinenteilen und Rohstoffen über den georgischen Schwarzmeerhafen Poti abgewickelt; zehn Tage dauert das, sagt Balasanyan, die Öffnung der Grenze zur Türkei würde alles ändern.

Vergangenen Freitag sendete Yerkir, der TV-Kanal der nationalistischen Daschnak-Partei, einen Dokumentarfilm über den politischen Wandel in Istanbul seit der Regierungsübernahme von Erdogans AKP, eine prämierte Produktion der Europäischen Stabilitätsinitiative ESI, Erste Stiftung und Standard. Noch vor zwei Jahren eine undenkbare Sache. Eine Stunde diskutierten davor zwei regierungskritische türkische Journalisten mit armenischen Politologen. Das Thema "Völkermord" kam in der Runde kein einziges Mal auf.  (Markus Bernath aus Eriwan/DER STANDARD, Printausgabe, 22.12.2009)