Wien - Er verfügt über alle pianistischen Qualitäten im Übermaß: über grenzenlose Kraft, flinke Reflexe, ein schier unerschöpfliches Reservoir an Klangschattierungen - und über die Fähigkeit, die Spannung in den ausgedehntesten Stücken nicht nur zu halten, sondern noch zu verdichten, je länger sie andauern. Mit einigem Recht gilt Grigorij Sokolov als derzeit wichtigster Repräsentant der russischen Schule des Klavierspiels.

Eines darf man sich vom St. Petersburger freilich nicht erwarten: Übertriebene Texttreue ist seine Sache nicht. Zwar bemühte er sich bei seinem jüngsten Wiener Recital suggestiv um zwei von vielen seiner Kollegen vernachlässigte romantische Werke und erntete damit - und vor allem mit seinen eingangs erwähnten Tugenden - vollkommen berechtigte Begeisterung.

Im Sinne der Erfinder waren seine Interpretationen von Schuberts D-Dur-Sonate (D 850) und Schumanns f-Moll-Sonate ("Concert sans orchestre") allerdings nicht immer. Ein symptomatisches Beispiel: Dort, wo bei Schubert massive Akzente notiert sind, versinken sie bei Sokolov in wohligen Klangbädern. Wirkte so schummrig, wie das auf abendliches Kathedralenniveau gedämpfte Licht im Großen Konzerthaussaal.

Zusammen mit ausgesprochen breiten Tempi und einer wenig flexiblen Phrasierung kam dies einer Verfremdung gleich, als wäre über scharfe Konturen ein Weichzeichner à la David Hamilton gelegt. Bei Schumann ergab sich ein ähnliches Bild, sodass bei aller atemberaubenden Virtuosität manches im Unklaren blieb, manches im maßlos eingesetzten Pedal unterging.

Maßlos war Sokolov auch bei den Zugaben: Dem bebenden Saal servierte er dreimal Skrjabin und dreimal Chopin: In dessen c-Moll-Prélude op. 28/20 zeigte er mit explosiven Eruptionen und flüsterleiser Zartheit nochmals die ganze Bandbreite seines Könnens. (Daniel Ender, DER STANDARD/Printausgabe, 17.12.2009)