Wien - Sollten Richard Wagners Musikdramen eher romantisierend oder modernistisch gespielt werden? Oder ist zwischen den Fronten martialischer Wucht und hemmungslosen Klangräuschen, wie sie Christian Thielemann verkörpert, sowie dem analytischen Sezieren, für das Pierre Boulez am radikalsten eingetreten ist, noch Raum für andere Möglichkeiten?

Mit seinem zweitem Dirigat an der Staatsoper (nach einer Parsifal-Serie vor vier Jahren) legte Simon Rattle nahe, dass es hier tatsächlich noch einen enormen Spielraum gibt - und dass es nicht einmal der Mittelweg zwischen diesen beiden Extrempositionen sein muss, damit das Resultat goldrichtig erscheinen kann.

Dabei klang vieles bei ihm anders als gewohnt: Ohne an Sinnlichkeit einzubüßen - wofür schon das begeistert mitfiebernde Staatsopernorchester sorgte -, zeigte der Dirigent vor allem das Tastende von Wagners Tristan-Musik. Ihre harmonischen Unsicherheiten, ihr Umherschweifen standen in seiner Lesart neben der sprechenden Gestik, bei der sich bezwingend plastische Dialoge zwischen den Instrumenten entspannen konnten, im Zentrum.

Ekstase ohne Hemmungen

Zwar waren es die visionären Klangeffekte, auf die Rattle nachhaltig aufmerksam machte, und die zerfurchten Stellen, die er besonders hervorhob. Aber dennoch war auch emotionale Dramatik bei ihm gut aufgehoben, wurden verträumte Stimmungen ebenso wie die vom Schwelgerischen ausgehenden Ekstasen ohne Scheu ausgekostet.

Den Preis für dieses Auftrumpfen, das stellenweise fast zum Eindruck einer Symphonie mit obligater Gesangsbegleitung führte, hatten freilich teilweise die Sänger zu entrichten. Nicht nur dort, wo Isolde "in dem tönenden Schall versinken" möchte, liefen die Stimmen nämlich Gefahr, im Orchesterklang zu verschwinden. Dies galt insbesondere für den darstellerisch unscheinbaren bis steifen Robert Dean Smith (Tristan), dessen metallischer Glanz diesmal matter und brüchiger als sonst daherkam.

Von den drei erfolgreichen Debüts dieser musikalischen Neueinstudierung erhielt neben der ausdrucksstarken Yvonne Naef (Brangäne) Violeta Urmana die größte Aufmerksamkeit - auch weil sie gerade zur Kammersängerin ernannt wurde. Als voluminöse, in der Mittellage eindrucksvoll durchgestaltete Isolde musste sie allerdings zuweilen die Flucht nach vorne antreten und an manchen Höhepunkten doch zu sehr forcieren.

Urmanas Verbindung von Bühnenpräsenz - von mehr kann man bei Günter Krämers Regie von 2003 mit der Anmutung einer halbszenischen Installation kaum sprechen - mit Drastik in Artikulation und Stimmgebung machte dennoch neugierig, was ihre nächste Zukunft bringt. Niemand vermochte es aber, stimmliche und szenische Überzeugungskraft deutlicher aneinander anzubinden als Bo Skovhus, der in der Partie des Kurwenal mehr zu leiden schien als Held und Heldin zusammen. (Daniel Ender, DER STANDARD/Printausgabe 16.12.2009)