Biografien kommen spontan auf die Bühne: SchauspielerInnen des SOG-Theater

Foto: SOG Theater

Kulturschock ist relativ. Im Fall der Sozialarbeiterin M. kam er vor etwa zwanzig Jahren, mit dem Umzug von Tirol nach Wien. "Dir fehlen wohl die Berge", sei sie ständig gefragt worden, erzählt M. "Die Berge fehlen mir am allerwenigsten", habe sie dann geantwortet: "Es sind die Menschen, die mir abgehen."

Weggehen und Ankommen

M.s Erzählung scheint einige im Saal nachdenklich zu machen. Irgendwo ankommen, sich fremd fühlen, gut aufgenommen oder abgelehnt werden, neue Bekanntschaften schließen: Es sind oft krisenhafte Erfahrungen, die fast alle Menschen kennen. Nur, wenn es AusländerInnen betrifft, nennt man es "Integrationsproblem". Das Wiener Neustädter "SOG Theater" versucht, hier keinen Unterschied zu machen: Die SchauspielerInnen gehen in Seniorenheime und Krankenhäuser, wo viele, aber nicht nur ImmigrantInnen arbeiten, entlocken den Beschäftigten ihre Erfahrungen - und bringen sie spontan auf die Bühne.

"Bist du sicher, dass du in Wien bist?"

Da ist Kadir, ein Küchengehilfe im SeniorInnen-Wohnheim Rossau im Wiener Alsergrund. Vor zwanzig Jahren kam er aus der Nähe von Istanbul nach Wien. Er erinnert sich gut an den ersten Anruf nach Hause: "Wo wohnst du?", fragte der Bruder. Bei den Schwiegereltern, erzählte Kadir. - "Wie sieht die Wohnung aus?" Kadir lacht noch heute: Dass die Wohnung zwar zwei Zimmer habe, aber ein Klo am Gang, das mit der Nachbarschaft geteilt wird, habe der Bruder kaum glauben wollen: "Ein Klo am Gang? Bist du sicher, dass du in Wien bist, und nicht in einem Dorf?", habe der Bruder gefragt.

Die SchauspielerInnen amüsiert es sichtlich, die Kurzgeschichte auf der Bühne zu improvisieren. "Wien ist ein Dorf", quaken sie, und hüpfen auf der Bühne herum. Das scheint auch den WienerInnen im Publikum zu gefallen. Und für Kadir selbst wird die Erinnerung in die Gegenwart geholt - in neuen Farben, und neu interpretiert durch die SchauspielerInnen.

Bisher gab es vier derartige Nachmittage in Seniorenheimen und Spitälern. Forumtheater und Playback-Theater sind die Methoden, die zum Zug kommen: Während bei ersterem die Erzählenden selbst ins Spiel eingreifen, dienen bei letzterer Technik die persönlichen Geschichten als Vorlage einer kurzen Inszenierung.

Ermutigung

Es gehe darum, Erfahrungen aufs Tapet zu bringen, um sie zu verarbeiten, erklärt Projektleiterin Christine Tragler. Für die Beschäftigten ist es eine Fortbildungsveranstaltung, für die SchauspielerInnen kreative Herausforderung. Nur wenige Sekunden haben sie Zeit, um die soeben gehörten Lebensgeschichten szenisch umzusetzen. Sie türmen Sessel aufeinander, dichten spontan Liedtexte, üben sich in Empathie. Das ermutigt die Beschäftigten, mit ihren eigenen Geschichten nach außen zu gehen.

Zehn verschiedene Muttersprachen werden an diesem Nachmittag gezählt. Dennoch sind es fast nur deutschsprachige Beschäftigte, die sich trauen, von sich zu erzählen. Das hat nicht nur mit Sprachproblemen zu tun, erzählt Tragler: Manche der ArbeiterInnen seien von zuhause geflüchtet - teils traumatische Erfahrungen, die nur im gut geschützten Rahmen erzählt werden. Andere wüssten über Rassismen zu berichten, verschweigen diese Geschichten aber - aus Angst vor Negativ-Reaktionen der KollegInnen.

Exotik des Geschlechts

Im Haus Rossau ist die Stimmung gut. Man merkt aber, dass über Herkunft ansonsten nicht offen gesprochen wird. Neue Mitarbeiterinnen zu fragen, woher sie kommen? Ganz sicher nicht, meint Mitarbeiterin Rada: "Man fragt, wie sie heißt und wo sie vorher gearbeitet hat." Übers Herkunftsland werde nur hinter dem Rücken gemunkelt. Das mag auch daran liegen, dass wahre Exotik im Pflegebereich nicht am Reisepass festzumachen ist - sondern am Geschlecht.

Haus Rossau-Chefin Judith Navranek hat sich bewusst um männliche Beschäftigte bemüht, und es ist ihr gelungen. Sie weiß, wie es um den Männer-Anteil in der Branche bestellt ist - und wie damit umgegangen wird: "Eine männliche Pflegekraft arbeitet drei, vier Jahre -  und schon landet sie in einer Leitungsposition." (mas, derStandard.at, 11.12.2009)