Ansichten des "atheistischen Katholiken" Christoph Kletzer

Foto: Standard

Es ist eine Illusion zu glauben, irgendein Staat könnte ohne eine Vorstellung darüber auskommen, was ein "gelungenes Leben" ausmacht.

Nicht eine der Politiken auch nur irgendeines Staates ließe sich damit erklären, dass wir den Staat als unparteiische Agentur verstehen, die in abstrakter Neutralität zwischen gleichberechtigten Lebensentwürfen entscheidet. Wir fördern Bildung, nicht Komasaufen, wir besteuern Zigaretten, nicht Joggen, und wenn sich jemand in einem öffentlichen Kindergarten als aktives Mitglied der Charles-Manson-Sekte vorstellt, dann wird er bald feststellen, wie wenig neutral ein Staat sein kann.

Ein liberaler Staat unterscheidet sich von einem illiberalen also nicht dadurch, dass er sich keinerlei Gedanken darüber macht, wie ein geglücktes Leben seiner Bürger aussehen könnte, sondern dadurch, dass er eingesehen hat, dass ein geglücktes Leben vor allem davon abhängt, dass man es selbst in größtmöglicher Eigenverantwortung, sozusagen von sich aus, führt und nicht von irgendwo vorgeschrieben bekommt.

Es ist also eine ganz bestimmte Vorstellung des menschlichen Lebens und nicht die Abwesenheit einer jeglichen solchen Vorstellung, die wir als Errungenschaft des liberalen Verfassungsstaates feiern. Die Neutralität und Unparteilichkeit des Staates gegenüber Lebensentwürfen, Werten, Religionen ist also nicht in seine Fundamente eingeschrieben. Sie ist vielmehr das Resultat seiner selbst werthaltigen, historisch gewachsenen Eigenart.

Wenn das der Fall ist, dann läuft die Diskussion über die Kreuze in den Schulen, ebenso wie tausende andere ähnlich gelagerte Diskussionen, aber gänzlich schief. Denn bei diesen Diskussionen wird man vor die falsche Alternative gestellt: entweder absolute Trennung von Kirche und Staat oder fundamentalistischer Gottesstaat. Die Möglichkeit, dass Liberalität in Religionsfragen vielmehr auch ein Bekenntnis zur eigenen religiösen Identität und Geschichtlichkeit nicht nur nicht ausschließen, sondern voraussetzen könnte, gerät dabei außer Blick.

Es geht hier also weniger um die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat, als um das Verhältnis von Staat und Christentum. Die wesentliche Frage ist nicht, welches rechtliche Arrangement dem als absolut vorausgesetzten Prinzip der Trennung von Kirche und Staat entspricht, sondern ob und wie weit der Staat ein Bekenntnis zur christlichen Tradition abgeben darf und soll. Diese Frage wiederum hängt davon ab, ob und inwieweit das Christentum in den die Legitimität unserer Staaten unterfütterten Werte- und Kulturkanon Europas gehört.

Das Christentum spielt bei dieser Frage keine andere Rolle als alle anderen kulturellen, philosophischen und politischen Strömungen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Ein Bekenntnis zur Aufklärung, zur Wissenschaft, zur Rationalität gehören da genauso dazu wie etwa ein Anerkenntnis der Errungenschaften einer internationalistischen, modernistischen Sozialdemokratie.

Diese Fragen betreffen unser innerstes Selbstverständnis und sind daher in einem freien, öffentlichen Diskurs, also demokratisch zu erörtern. Gerichtliche Entscheidungsfindung ist hier ungeeignet. Die Aufgabe der Gerichte ist es, die Möglichkeit der Partizipation an genau diesem Diskurs sicherzustellen, sie haben daher erst dann einzuschreiten, wenn bei dieser Selbstvergewisserung des Gemeinwesens die Verletzung von Minderheitsrechten eine Intensität zu erreichen droht, die eine inhaltsvolle Partizipation an diesem Prozess der Selbstvergewisserung verunmöglicht. Der Schutz der Identität der Minderheit darf nicht a priori bedeuten, dass das Gemeinwesen identitätslos zu bleiben hat.

In Deutschland hat man vor einigen Jahren diese Debatte an die Wand gefahren, indem man sie auf den Begriff der Leitkultur eingeengt hat. - Niemand möchte einen Deutschen über Leitkultur reden hören. Die dahinterstehende Frage ist jedoch genauso wichtig wie zuvor und wird sich zweifellos auch als Schicksalsfrage der Europäischen Union herausstellen. Die Frage ist, um es europäisch zu sagen: What kind of people are we?

Über die konkrete Frage, ob das Christentum nun Teil der europäischen liberalen Tradition oder der große Widersacher dieser Tradition ist, lässt sich natürlich streiten.

Ich persönlich glaube, dass trotz der schlechten Presse, die sich die katholische Kirche in regelmäßigen Abständen abholt, ein Gutteil unserer substanziellen Liberalität gerade von derjenigen christlichen Tradition herkommt, die wir im Namen der Liberalität opfern zu müssen glauben. Der in der katholischen Soziallehre entwickelte Begriff der Subsidiarität etwa bezeichnet genau dieses Verhältnis von Bürger und Staat, das eine substanzielle Liberalität möglich macht:

Der Zweck des Staates ist darin bestimmt, "subsidium" , Unterstützer des Bürgers zu sein. Er hat die Aufgabe, dem Bürger dabei zu helfen, ein autonomes, selbstbestimmtes Leben gemäß den eigenen Vorstellungen zu führen. (Christoph Kletzer/ DER STANDARD, 28.11.2009)