"Ich gehorche nicht mehr", sagt Wiltrut Stefanek heute. Sie hat seit der Diagnose viel dazugewonnen: Freude, Lebenserfahrung, Freunde. Sie ist nicht an der Diagnose verzweifelt, auch in den schweren Zeiten.

Foto: Wiltrut Stefanek

Sie ist Aids-Aktivistin und seit 14 Jahren HIV-positiv.

Wir haben uns im Café Monarchie verabredet. Es ist Juni. Draußen regnet es und sieht so gar nicht nach frühsommerlich aus. Mein Aufnahmegerät auf dem Tisch, ein Notizblock vor mir. Ich bestelle Kaffee. Sie bestellt gebackenen Emmentaler und eine Cola. Nicht gerade gesund, was ich heut' esse, sagt sie und lacht. Sie strahlt Ruhe aus, ihr Blick ist klar und direkt. Ihre Worte sind bedächtig gewählt, auch wenn sie fast ununterbrochen aus ihr heraussprudeln. Die blondierte Kellnerin kaut gelangweilt Kaugummi und wird sich nicht weiter um uns kümmern. Unser Gespräch wird über zwei Stunden dauern, die mir nicht lang werden.

Wiltrut Stefanek ist Aids-Aktivistin, Tochter, Mutter, Schwester und Partnerin. Für viele Menschen eine Vertrauensperson, eine Freundin. Sie ist seit 14 Jahren HIV-positiv.

Wiltrut Stefanek weiß, wie sie sich infiziert hat. Ihr Ehemann hat über seine HIV-Infektion geschwiegen, das Risiko in Kauf genommen, sie und den gemeinsamen Sohn anzustecken. Ihr Sohn hatte Glück. Der Vater hat dem damals Sechsjährigen dann erzählt, dass seine Mutter an Aids sterben werde.

Wiltrut hatte ihren Mann jung geheiratet, Unterdrückung und Gewalt in ihrer Ehe lang genug geduldet. Die Diagnose hat ihr gezeigt, dass sie sich von ihrem Mann trennen muss. Ihrem Mann, der nicht darüber nachdenken wollte, wie es weitergehen soll, wie man mit HIV leben kann. Das gelernte Gehorchen und Funktionieren in der Ehe musste ein Ende finden. Wiltrut Stefanek sagt: Mir wurde, wie den meisten Frauen, beigebracht zu gehorchen. Ich gehorche nicht mehr. Ich funktioniere, soweit ich das möchte, aber ich gehorche nicht mehr. Sie ist damals mit ihrem Sohn ins Frauenhaus gegangen. Ihr Mann ist 2001 an AIDS gestorben.

Ich denke an ein Zitat von Hannah Arendt und schreibe es, als einzige Notiz an diesem Abend, quer über die Zeilen meines Blocks: Keiner hat das Recht zu gehorchen.

In Österreich ist es schwieriger

Die Verbindung zwischen Mutter und Sohn ist innig, sie verbringen viel Zeit miteinander und sprechen offen über Ängste und über die Zukunft. Er ist Epileptiker, und in diesem Zusammenhang lernt Wiltrut Stefanek schon früh, sich mit seinen behandelnden Ärzten kritisch auseinanderzusetzen. Ihr Sohn ist mittlerweile 19 Jahre alt.

Nach der Diagnose war die Überlegung da, aus Wien wegzugehen, nach Deutschland, wo das Leben mit HIV einfacher ist. Deutschland hat eine gefestigte Community, in Österreich ist es schwieriger. Vor allem Frauen verstecken sich nach wie vor. Aber um den Kontakt zur Familie und die vertraute Umgebung für den Sohn nicht zu verlieren, bleibt Wiltrut in Wien.

Wiltrut Stefanek hat seit der Diagnose viel dazugewonnen: Freude, Lebenserfahrung, Freunde. Sie ist nicht an der Diagnose verzweifelt, auch in den schweren Zeiten. Ihr Sohn hat dann immer gesagt: Leben musst du trotzdem, weil du hast einen Sohn. Wiltrut Stefanek erzählt auch von einer Lehrerin, die zu ihm gesagt hat: Du bist ja ein ganz armes Kind mit deiner Mama. Die Antwort des damals 11-Jährigen war: Warum, das ist die beste Mama, die es gibt.

Die Diagnose war 1996. Ein Jahr danach hat sie sich geoutet. Sich entschieden, sichtbar zu leben, der Krankheit in der Öffentlichkeit ihr Gesicht und ihre Stimme zu geben. Nur zwei Jahre nach der Diagnose hat sie eine Selbsthilfegruppe gegründet.

Die Nervosität vor dem ersten Vortrag, im WUK. Einhundert Leute sollten kommen, dann waren es nur zehn. Das war der richtige Beginn, es wurde ein sehr persönlicher Dialog. Zu der Zeit hat sie mit ihrem Sohn noch im Frauenhaus gelebt. Die Rückkehr dorthin an diesem Abend, mit dem Gefühl, das Richtige getan zu haben. Der Angst vor den Reaktionen der anderen Menschen zu trotzen, zu sich selbst zu stehen.

Zu sich selbst stehen

Die Selbsthilfegruppe, die sie gründet, ist anfangs eine reine Frauengruppe, später, nach Rücksprache mit den Frauen, öffnet sie die Gruppe für alle. Wiltrut erzählt lachend davon, dass sie schwule Freunde gefragt haben, ob sie auch in die Frauengruppe dürfen, wenn sie sich ein Dirndl anziehen.

Die Gruppe gestaltet sich als schwierige Aufgabe. Betroffene melden sich zwar, aber anfangs will keiner zu Gruppentreffen kommen. Telefongespräche und persönliche Treffen mit Wiltrut Stefanek bleiben für viele die einzige Möglichkeit, mit jemandem über ihre Krankheit und ihre Sorgen zu sprechen.

Mit der Zeit werden Gruppenabende und Ausflüge möglich. Auch wenn nicht jeder mit jedem kann, entwickeln sich über die Jahre doch viele Freundschaften. Intensive gemeinsame Momente, die es im "normalen Leben" nicht in der Form oder Häufigkeit gibt, schweißen zusammen. Auch ihr Sohn kennt die Gruppe, sie ist ein fester Bestandteil des Familienlebens. Es ist sein Wunsch, dabei zu sein. Das ist ja unser Leben, zitiert ihn Wiltrut Stefanek. Die Betreuung am Telefon und persönliche Treffen macht Wiltrut ausschließlich selbst.

Viele Betroffene, vor allem Frauen, leben isoliert und halten die Krankheit aus Angst, auch vor Familie und Freunden, manchmal bis zu ihrem Tod, geheim. Nur Wiltrut oder die Selbsthilfegruppe kennen dann die Wahrheit mit HIV, die Familie, die Lüge mit Krebs.

Das eigene Outing ist eine bewusste Entscheidung gewesen, über die sie bis heute glücklich ist, aber Wiltrut Stefanek würde es niemandem empfehlen. Negative Reaktionen, Hass und Beschimpfungen hat sie schon zur Genüge erlebt, sowohl bei ihren Vorträgen als auch im privaten Umfeld. Aber versteckt und immer mit der Angst vor Aufdeckung leben, das will sie nicht.

Vor kurzem hat sich eine gute Freundin von Wiltrut erhängt. Sie konnte mit der Diagnose HIV nicht weiterleben, litt unter Depressionen. Ihren Tod hat die Freundin penibel geplant. Die Wohnung aufgeräumt, Bargeld und Papiere in der Wohnung bereitgelegt, für die Beerdigung. Die Freundin hatte Wiltrut zu sich nach Hause bestellt, an der Wohnungstür eine Nachricht hinterlassen: Ruf die Polizei.

Wenn Wiltrut Stefanek etwas berührt zieht sie sich zurück, setzt ihre Kopfhörer auf und hört Musik. Sie musste lernen, sich abzugrenzen, auch wenn manche Menschen daraus schlussfolgern, sie sei hart geworden, was nicht der Fall ist.

Ihre Arbeit als Aktivistin ist ihr ebenso wichtig wie finanziell unabhängig zu sein. Sie arbeitet in der Trafik ihrer Eltern. Erst hatte die Mutter Bedenken, ob Wiltrut nach der Diagnose auch belastbar genug sein wird. Nach vier Jahren im Betrieb ist das keine Frage mehr.

Eigene Rechte und Wünsche

Ihre Freizeit besteht aus Terminen, Sitzungen, persönlichen Gesprächen mit HIV-Positiven. Ohne Terminkalender geht gar nichts, aber das macht ihr nichts aus, weil ihre Arbeit als Aktivistin sie erfüllt.

Trotzdem stand sie vor zwei Jahren kurz vor dem Entschluss, aufzuhören und jemanden zu suchen, der die Gruppe übernimmt. Die Frage, ob die Leitung der Gruppe auf Dauer nicht zu sehr an ihren psychischen und physischen Kräften zehrt, beschäftigte sie. Wiltrut entschied sich für die Gruppe, nicht nur weil sie keine Nachfolgerin fand, sondern auch, um ihre eigenen Rechte und Wünsche als HIV-Positive weiter verfolgen zu können. Damit man nicht über Positive spricht, sondern mit Positiven, sagt Wiltrut Stefanek.

Und dafür setzt sie ihre ganze Energie ein, unter anderem auf der Welt-Aids-Konferenz letztes Jahr in Mexiko City. 25.000 Menschen aus aller Welt waren dort, und die Stadt ein Erlebnis für sich. Das Netzwerk Frauen und Aids hat sie im Oktober 2008 gegründet.

Seit einigen Jahren lebt sie wieder in einer Beziehung. Da ihr Partner gesund ist, bekommt sie immer wieder verletzende Aussagen zu hören wie: "Du kannst froh sein, dass du einen Freund hast, obwohl du HIV-positiv bist!" Wiltrut schüttelt den Kopf und sagt: Das lass ich mir aber nicht gefallen. Wir sind außerdem beide froh, dass wir uns haben.

Wiltrut erzählt auch von ihrer Kindheit in Wien, den Ausflügen zu den Verwandten in die ehemalige DDR. Eine langjährige Brieffreundin aus der DDR, die später auch bei ihrer Hochzeit in Wien war, hat am Tag der Diagnose Samen in ihren Garten eingesetzt und einen Baum für Wiltrut gepflanzt. Der Anlass war nicht so schön wie die Idee. Der Baum wächst als Beweis, dass sie weiterleben kann.

Wiltrut Stefanek wäre natürlich lieber gesund, aber sie weiß nicht, ob sie dann glücklicher wäre. Vielleicht wäre ich dann noch verheiratet, schrecklich, sagt sie und lacht.

Ich teste die Aufnahmen, spule die erste Kassette auf Anfang:

Was ich früher nie gesehen habe, wie gern ich lebe und wie gern ich noch viele, viele Jahre leben möchte. Wie kostbar das alles ist, was ich mir in den letzten Jahren aufgebaut habe. Mein Umfeld, meine Familie. Wenn ich denke: vor der Diagnose und heute. Heut geht's mir tausendmal besser als früher. Ich hab mir das hart erkämpft, und darauf bin ich stolz ... auf meinen Optimismus. Natürlich gibt es Momente, die einen zurückwerfen, wenn es mir körperlich schlecht geht, oder Situationen, die ich mit der Selbsthilfegruppe erlebe. Das gehört dazu. Das gehört zum Leben.

Die Espressomaschine faucht. Wir warten auf die Rechnung. Wiltrut Stefanek fragt mich, ob ich genug Material habe. Dann verabschieden wir uns vor der Tür des Kaffeehauses, es hat aufgehört zu regnen. Nach ein paar Schritten fällt mir ein, dass ich meinen Schirm vergessen habe. (Sandra Gugic, ALBUM – DER STANDARD/Printausgabe, 28./29.11.2009)