Flandern im Spätherbst. In Oostende - Königin der Plantschburgen am Ärmelkanal - bedeutet das neben erfreulich menschenleeren Frühstücks-Buffets, vor allem viel freien Raum im Grenzbereich von Wasser und Land.

Foto: Michael Robausch

Idyllfrei sind sie zwar, die Hotel- und Appartementwälle. Doch bereitet man sich nüchtern auf diesen Anblick vor, kann der Besucher aus den infrastrukturellen Implikationen durchaus seinen Vorteil ziehen. Zum Beispiel, dass sein Weg zum nächsten Bier nie ein weiter sein wird. Und wem die ebene Erd' manchmal doch zu bedrückend wirken mag, dem bleiben zumindest die unverstellten Himmelslandschaften.

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Die Flemish Mountains (danke Nits!) im Farbenspiel des unsteten Lichts: Monet in Beton getaucht.

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Sand, Schlick, gesunde Luft. In den sommers von Tausendschaften Badewilliger verlegten und nun so leeren Weiten hat man das alles für sich allein.

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Allein? Nicht ganz.

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Bläulich schimmern die ziemlich toten und sehr extraterrestrisch anmutenden Angeschwemmten, während sie von bis in Kniehöhe reichenden Sandstürmen in mumifizierten Zustand gebacken werden. Doch was tun, außer eifrig an  Seepromenaden zu flanieren, Sand aus Schuhen zu kippen, zu gourmetieren und die Zeit einen guten Mann sein lassen?

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Zum Beispiel...durchaus überraschender Perspektiven Oostender Architektonik ansichtig werden.

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Symbolistisch verbrämte Einsprengsel entdecken.

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In steingewordenen Manifestation der Düsternis wandeln. (Der alte Honoratioren-Friedhof gleich hinter dem königlichen Hippodrom ist allerdings härtester Stoff...)

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Auf und um museale Windjammer herum im Jachthafen ein bisschen Seefahrtsromantik tanken.

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Oder eine Exkursion nach England antreten. Aus der Bahn fast übergangslos auf die Fähre wechseln, in Oostende ist das ein Klacks. Ein Naheverhältnis zur Insel ist im übrigen nicht nur verkehrstechnisch zu konstatieren. Viele Besucher kommen ebenso von drüben wie das Hotelpersonal. Man begegnet im flandrischen Alltag auch typisch britischen Kulturtechniken (langes feuchtes Frauenhaar ungeachtet klimatischer Bedingungen lufttrocknen lassen, zum Beispiel). Und nicht zuletzt ist Orangenmarmelade erfreulich günstig zu haben.

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Im Binnenland nimmt man eine außerordentliche räumliche Verdichtung wahr. Klinkerhäuschendorf, Autobahnen, Kopfweidenidyll, Industriezonen, Pferderomantik auf fußmattengroßer Weide. All das folgt fast übergangslos und  in rascher Folge aufeinander.

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Flandrische Natur ist ein Gegenentwurf zur Wildnis. Bis an die Grenze zur Pedanterie wird sie liebevoll gehegt und in Form gebracht. Die Neigung zur geraden Linie ist unübersehbar. Dies ist ein Land der Hecken und schnurgerade verlaufender Kanäle, in dem die Bäume adrett in Reih und Glied stehen.

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Brügge, der touristische Hottestspot Flanderns, ist auch im November gut besucht. Doch schon zwei Ecken hinter den bekannten Sehenswürdigkeiten umfängt den Besucher Kanalstille.

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Das ist die Stadt, wie sie Georges Rodenbach 1892 in seinem - für heutige Leser zugegebenermaßen manchmal hart an der Lächerlichkeit schrammenden -  Roman Bruges-la-morte beschrieben hat. Von der sich das Meer (und damit Handel und Betriebsamkeit) zurückzog und die seither in die Kulissenhaftigkeit ihrer vergehenden Schönheit versank.

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Tauchen wir also für einen Augenblick mit ein, in die süßliche Morbidität des Fin de siècle: "Oh Schwermut dieses Graus der Brügger Straßen, wo alle Tage wie Allerheiligen aussehen. Dieses Grau, wie gemischt aus dem Weiß der Nonnenhauben und dem Schwarz der Priesterröcke..."

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"An allen Straßenecken sah man geschnitzte Heiligenschreine mit Glasfenstern, in denen Jungfrauen in Samtmänteln zwischen verblaßten Papierblumen standen..."

 

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Hospize, Kirchen und Klostermauern zeugen in Brügge auch heute noch von jenem tiefverwurzelten flandrischen Katholizismus, den Rodenbach aus jedem Backstein rieseln lässt.

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Die Gegenwart hat uns wieder. (Bitte schnell und spontan reagieren.)

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Belgien - und also auch Flandern - bestätigt sich als ein Land der gemächlichen Genießer. Gemütlich unspektakulär. Gegessen und getrunken wird bekanntlich gut und gerne. Zumindest jeder dritte Laden in örtlichen Straßenzügen hat sich in irgendeiner Form der Förderung des Verzehrs gewidmet (dazwischen: Unmengen von Frisörsalons). Und kann man sich denn einen sympathischeren nationalen Superlativ denken, als jenen des höchsten Pralinenverbrauchs pro Kopf in Europa (und damit aller Wahrscheinlichkeit weltweit)?

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Allein die Preisgestaltung der ebenso dicht vorkommenden Restaurationen treibt dem Hungrigen den Angstschweiß auf die Stirn. Sau- oder wie der Flame formuliert: pfefferteuer. Unter 20 Euro je Maul ist kaum ein Davonkommen. Schon gar nicht, sollte diesem der Sinn nach Moules-frites stehen, der klassischen Kombination von Miesmuscheln und Pommes.

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Süße Leckereien und Weltkriegsschrecken, das geht in Ieper (Ypern) ohne weiteres zusammen. Heute ein wie aus dem Ei gepelltes altflandrisches Städtchen, lag der Ort 1918 vollständig in Trümmern. Vier lange Jahre zermürbten hier einander Briten und Belgier auf der einen, sowie Deutsche auf der anderen Seite.

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Weithin sichtbar, dominiert die gewaltige Tuchhalle das flache Land um Ieper. Auch dieser riesenhafte Koloss aus dem 13. Jahrhundert, einst Ausdruck des Reichtums der Stadt, wurde nach Originalplänen wieder aufgebaut. Ieper, das heute auch ein bisschen am Kriegstourismus mitnascht, könnte eigentlich ein ganz normales - wenn auch außergwöhnlich schmuckes - Provinzstädtchen sein.

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Doch spätestens an der Menenpoort wird klar, dass das vielleicht nie mehr möglich ist. Dort, am ehemaligen Stadttor, steht das Mahnmal für vermisste Soldaten aus den Armeen des britischen Commonwealth. Fast sechzigtausend Namen, darunter viele viele kanadische, bedecken dicht an dicht die Wände. Das schnürt die Kehle zu. Eingedenk des Grauens, schwankt man gegenüber den das Mausoleum auf ihrem Heimweg unbekümmert durchquerenden Schulkindern zwischen Dankbarkeit für ihre Lebendigkeit und Verachtung ob lärmender Ignoranz.

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Na also, es geht doch! Zurück an der See und an der Mündung der IJzer: rare Ausblicke auf weite Horizonte an einer ansonsten von fast durchgängiger Bebauung geprägten Küstenlinie.

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Hier, beim empfehlensweiten Spaziergang vom beschaulichen Nieuwpoort Stad (Sehenswürdigkeit: ein Schleusensystem, das nicht weniger als SECHS Kanäle an einem EINZIGEN Punkt in den Fluss münden lässt) nach Nieuwpoort Bad, findet sich eine der Lücken.

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Eine außerordentlich bequeme Einrichtung stellt die sogenannte Kusttram vor. Im 20-Minuten-Takt bimmelt diese - wie das gesamte öffentliche Verkehrssystem in Belgien - äußerst effiziente Straßenbahn von einem Ende der flämischen Riviera bis zum anderen. Und das für den unfassbaren Kampfpreis von zwei Euro pro Nase und Strecke. (Unter dem Vorbehalt, dass Ihr Berichterstatter das Tarifsystem auch wirklich durchschaut hat.)

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Von De Haan im Süden (lokaler Sprachgebrauch: Westen) bis Heist im Norden (bzw. Osten) werden so immerhin an die 70 Kilometer Sandstrand (von dem die Küste prinzipiell vollständig abgedeckt wird) abgeklappert. Ein auf diesem Weg sich prominent in den Blick schiebendes Wahrzeichen: die mächtigen Hafenanlangen von Zeebrugge.

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Endstation Möwenweide in Knokke-Heist. Das mit Abstand snobistischste flandrische Seebad hat die Haute-Volée Belgiens zu ihrem Reservat erkoren. Unter anderem sorgt die vermutlich höchste Juwelier-Dichte des Landes dafür, das recht locker sitzende Einkommen dem ökonomischen Kreislauf wieder problemlos zuführen zu können. Auch der Umsatz in aktuell unverzichtbare couturielle Accessoirs ist ein Leichtes - und seien das auch die ziemlich unmöglichen Gummistiefel für die ganze Familie, ohne die eine Strandexpedition in dieser Saison offenbar fast gar nicht geht.

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Zu guter Letzt ein Ausflug: Nach Lille. Oder Rijsel. Flämisch gesehen. Fast einmal österreichisch geworden und jedenfalls spanisch-habsburgisch gewesen, besticht die Metropole der Ch'tis in Französisch-Flandern durch seine einzigartige Melange aus flämischer Bodenständigkeit und französischem Raffinement. Umschmeichelt vom pittoresken Gefäß einer wunderbaren Altstadt. (Fotos und Text: Michael Robausch, derStandard.at)

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