Zur Person:

Fritz Kaltenegger, 38 Jahre alt, in Wolfsberg in Kärnten geboren, studierte Landschaftsplanung an der Boku in Wien, klassische Bauernbündlerkarriere in der Volkspartei, begann 2001 im VP-Parlamentsklub als Referent für Agrarfragen, 2003 holte ihn der damalige Landwirtschafts- und Umweltminister Josef Pröll als Kabinettschef ins Ministerium, 2005 zum Bauernbunddirektor gewählt, wurde Kaltenegger im Oktober 2008 vom neuen ÖVP-Chef Pröll zum Generalsekretär berufen. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Foto: Thomas Mayer

VP-Generalsekretär Fritz Kaltenegger deutet im Europa-Gespräch mit dem Standard an, dass der Verzicht seiner Partei auf die Nominierung von Wilhelm Molterer zum EU-Kommissar einen möglichen Koalitionsbruch verhindert hat: "Das Bewusstsein, dass große Aufgaben vor uns liegen und die Arbeit auf nationaler Ebene ebenso wie in der Regierung, das alles hat diszipliniert", sagt er, "es in dieser Frage auf die Spitze zu treiben, das hätte in Österreich niemand verstanden".

STANDARD: Einfache Frage: Wie hoch war die Berliner Mauer?

Kaltenegger: Da muss ich scharf nachdenken. Ich bin davor gestanden, hätte gesagt 3 Meter fünfzig.

STANDARD: Das ist ganz gut. Es waren 3,60 Meter, insgesamt 106 Kilometer zwischen Ost- und Westberlin.

Kaltenegger: Ich war vor etlichen Jahren in Berlin, das hätte ich vom Vorbeifahren so geschätzt. Und es gibt ja die Bilder, wo einer den anderen raufzieht. Das geht nur bis zu einer gewissen Höhe. Ich habe sogar ein Stück der Mauer zu Hause.

STANDARD: Interessant, ein sehr handfester Zugang zu den Dingen. Ich wusste es auch nicht genau. Der Hintergrund der Frage ist eher ein anderer. Ich wollte Sie eigentlich fragen, für wie hoch sie die geistigen Mauern in Österreich in Bezug auf die Europäische Union schätzen.

Kaltenegger: Ich glaube nicht, dass das Überwinden der Mauer unbedingt von der Höhe abhängt. Man kann das auch von einem kleinen Sims aus tun. Aber wenn man unbedingt will, überwindet man auch so hohe geistige Mauern wie es die Berliner Mauer gewesen ist. Das Thema Europa und die Beziehung der Bevölkerung zu Europa, das ist ein Prozess, den wir jetzt wieder intensivieren müssen, auch angesichts dessen, was in Zusammenhang mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und mit dem Fall der Berliner Mauer heuer in Erinnerung gerufen wird.

STANDARD: Wo waren sie am 9. 11. 1989?

Kaltenegger: Wahrscheinlich in der Schule, in der Höheren Bundeslehranstalt für alpenländische Landwirtschaft in Raumberg, also in der Steiermark. Ich kann mich noch an das Ereignis erinnern, als Jugendlicher, was die Medien an Bildern geliefert haben. Ein Bild habe ich im Kopf: Wie jemand mit so einem Hammer auf die Mauer eingedroschen hat und versucht hat, die Mauer einzureißen. Das ist mein Erinnerungsbild. Ein Jahr später habe ich in der Pfalz ein Praktikum gemacht, also gearbeitet. Eine Nachbarin hat mir damals ein Stück Mauer zum Geburtstag geschenkt, in Zellophan verpackt. Damals habe ich mich schon gewundert. Aber gerade in diesen Tagen wird man daran erinnert, da bin ich wieder beim Jugendlichen Fritz Kaltenegger. Ich lebe länger in diesem freien Europa als in der Zeit, in der die Mauern hochgezogen waren. In meiner Kindheit war es selbstverständlich, dass Europa geteilt war, das Berlin geteilt war. Mittlerweile hat man verinnerlicht, dass man das vereinte Europa genießt, die Freiheiten genießt, die damit verbunden sind.

STANDARD: Hat ihre Generation tatsächlich Schwierigkeiten sich vorzustellen, dass die Überwindung der Teilung Europas keine Selbstverständlichkeit war?

Kaltenegger: Nein, das ist es nicht. Wenn ich mit Schulfreunden rede, ist das selbstverständlich geworden, das es ein internationales Geschäft gibt, beispielsweise mit Ungarn. Ein anderer ist Bodenschätzer, das hat sich in unseren Köpfen etabliert. Vielleicht ist das der Grund, warum so Kleinigkeiten wie die Kruzifixentscheidung solche Aufregung verursachen.

STANDARD: Einspruch, das ist eine Entscheidung des Menschenrechtsgerichtshofes des Europarats in Straßburg. Das hat mit der EU nichts zu tun, aber in Österreich wird das ausschließlich in EU-Zusammenhang diskutiert, warum eigentlich?

Kaltenegger: Das ist richtig, ein Thema das aufregt. Wahrscheinlich, weil Menschenrechtsgerichtshof und EU-Gerichtshof leicht in einen Topf geworfen werden. Das Thema Europa zu erklären ist ein unheimlich schwieriger, langwieriger Prozess.

STANDARD: Da sind wir aber jetzt genau an dem Punkt, worüber ich mit Ihnen gerne reden würde, sie festnageln möchte. Warum erklären das die Politiker, die es ja besser wissen müssten, den Bürgern nicht besser? Zum Beispiel, dass man nicht auf die Union schimpfen sollte für etwas, was mit der EU nichts zu tun hat. Österreich ist im europäischen Prozess zweifellos in einer exponierten Lage, es gibt viele zweifellos viele negative Folgen der Umstrukturierung, nicht nur Vorteile. Aber offensichtlich versagt die Politik dabei, den Menschen die Zusammenhänge, Vorteile und Nachteile, zu erklären. Beispiel Kruzifixurteil. Wieso stellt sich da keiner hin und sagt klar, Moment, nichts durcheinanderbringen, Europa muss man genau diskutieren und die Dinge auseinanderhalten.

Kaltenegger: Das sehe ich durchaus genauso. Ich bin überzeugt davon, dass Kruzifixe in die Klassenzimmer gehören, aber dass man die Dinge nicht vermischen soll. Da wird sicherlich viel vermischt in der Darstellung, bewusst und unbewusst. Schauen wir uns an, wie europapolitische Dinge diskutiert werden, etwa bei der Europawahl. Ich würde da für uns, die ÖVP, in Anspruch nehmen, dass wir da noch das klarste Profil haben im Vergleich zu anderen Parteien, fast allein sind auf weiter Flur. Das Problem ist, dass mit kritischer Bemerkung, mit negativer Bemerkung, mehr Stimmung gemacht werden kann. Aber, ich sehe auch, dass sich die Stimmung zu Europa in den vergangenen eineinhalb Jahren stark verbessert hat. Die Menschen haben erkannt, dass wenn es um die Bewältigung der Wirtschaftskrise geht, es gut ist, wenn man sich in einem großen Ganzen organisieren kann, die Kräfte bündelt und sich gemeinsam gegen die Krise stemmt. Das hat beigetragen, dass die Stimmung sich gebessert hat. Das muss man jetzt mitnehmen für künftige Entscheidungen.

STANDARD: Aber es gibt doch das Problem, dass Europa vielen Bürgern nach wie vor nicht selbstverständlich ist. So wie wenn man als Steirer oder in ihrem Fall als Kärntner sagen würde: Ich habe ein Problem damit, Österreicher zu sein. So scheinen viele Österreicher ein Problem damit zu haben Europäer zu sein.

Kaltenegger: Das kann schon stimmen. Aber es ist nicht schlecht, wenn Frieden und Wohlstand als Selbstverständlichkeit erachtet werden. Ich denke schon, dass da ein Bewusstsein entstanden ist, dass es was Gutes war, die Mauern und Zäune niederzureißen, und dass wir davon profitieren. Aus österreichischer Sicht ist es zweifellos so, dass das Herauskommen aus der Krise unmittelbar mit unseren Nachbarländern verbunden ist.

STANDARD: Warum gelingt es der politische Klasse nicht, das klar zu machen, dass ein kleines Land zwar große Herausforderungen hat durch die Öffnung, aber umso größere Chancen. Das liegt doch auf der Hand, dass das mehrheitlich nicht klappt.

Kaltenegger: Das Verblüffende ist: Die Chancen werden ja genützt. Es gibt ja viele, die das nützen, Unternehmer, junge Menschen, die rausgehen, nicht nur wirtschaftlich, auch kulturell, geistig. Als ich in die Schule gegangen bin, war es nicht selbstverständlich ins Ausland zu gehen, war gar nicht erwünscht. Heute ist das selbstverständlich, in landwirtschaftlichen Betrieben, in der Nahrungsmittelerzeugung. Aber ich bin überzeugt. Das in die Selbstverständlichkeit überzuführen, dafür ist noch viel Arbeit nötig.

STANDARD: Aber die Politik versagt. Man sehe sich das Hin und Her bei den EU-Postenbesetzungen an. Österreich ist nicht angekommen. Die südlichen EU-Länder, die Benelux-Staaten, die spielen in Europa selbstverständlich mit. Eigentlich wäre es nach 15 Jahren EU-Mitgliedschaft längst an der Zeit gewesen, dass Österreich da mitspielt, es gab zwei Ex-Bundeskanzler, die standen zur Verfügung. Das sagen auch viele. Aber SPÖ und ÖVP haben es geschafft, sich gegenseitig zu lähmen.

Kaltenegger: Da bin ich nicht einverstanden. Denken sie an Alois Mock, an Schüssel, an Alfred Gusenbauer, wenn sie wollen. Wenn es um die Entwicklung geht, dann zählt rot-weiß-rot. Das sage ich ganz bewusst als Generalsekretär. Das hat auch Josef Pröll klargemacht.

STANDARD: Aber es muss sie doch der Hafer stechen, wenn das herauskommt, was herausgekommen ist. Der Kanzler hat doch versucht, möglichst wenig herauszubringen, weil das sonst der ÖVP zufällt.

Kaltenegger: Ich würde es so sehen: Es ist wichtig und gut, dass der Regierungschef die Interessen des Landes vertritt und nicht zu sehr die Interessen einer Partei. Das ist der Punkt. Jetzt sind die Regierungschefs gefragt. Aber Faktum ist, wir haben eine Entscheidung. Jetzt geht es darum, das auszufüllen mit einer Funktion.

STANDARD: Aber alle, die sich auskennen, sagen, dass Molterer ein besseres Dossier bekommen hätte als Johannes Hahn. Er ist einfach besser qualifiziert. Und er war vorgesehen als Agrarkommissar. Aber es hat nicht funktioniert.

Kaltenegger: Das ist richtig. Aber ich sehe das bei Hahn anders. Ich will die Entscheidungen und Rechtfertigungen des Werner Faymann nicht kommentieren. Das sollen andere tun. Er muss rechtfertigen, warum er Willi Molterer nicht nominiert hat.

STANDARD: Man wundert sich ja eher, warum die ÖVP das so zahm hinnimmt.

Kaltenegger: Das Bewusstsein, dass große Aufgaben vor uns liegen und die Arbeit auf nationaler Ebene genauso wie in der Regierung, das alles diszipliniert. Die Bevölkerung will nicht jeden Tag darüber lesen, wer wen warum wofür vorschlägt. Jetzt geht es um die Aufgaben, konkret für Hahn.

STANDARD: Hat die ÖVP nachgegeben, um die Koalition zu retten?

Kaltenegger: Es in dieser Frage auf die Spitze zu treiben, das hätte in Österreich niemand verstanden.

STANDARD: Zurück zur Positionierung Österreichs in der EU. Man hat den Eindruck, dass wir keinen reifen Europadialog entwickelt haben, alles wird immer schwarz-weiß dargestellt. Europa ist ganz gut oder ganz schlecht, polarisiert. Warum ist das so? Wenn sie

Kaltenegger: Europa kann man nicht schwarz oder weiß diskutieren. Man wird es bunter diskutieren müssen. Die ÖVP hat aus der Niederlage Konsequenz gezogen. Wir müssen viel intensiver als bisher Europa, Brüssel, den Austausch mit der Heimat vernetzen und pflegen. Deswegen gibt es nun einen eigenen internationalen Sekretär.

STANDARD: Wie oft fahren sie selber nach Brüssel?

Kaltenegger: Einmal im Quartal bin ich da.

STANDARD: Das ist viel. Frau Rudas oder Herrn Strache sieht man nie hier.

Kaltenegger: Das weiß ich nicht.

STANDARD: Präsenz hat sicher etwas damit zu tun, ob man sich etwas zuwendet oder eben nicht.

Kaltenegger: Das stimmt. Wir haben eben mit Patrick Voller deshalb jemand als internationalen Sekretär besetzt, der für die Vernetzung mit Europa sorgen soll, auch für die dauernde Präsenz der Europaabgeordneten in Österreich, nicht nur vor Wahlen. Das ist zu spät.

STANDARD: Wird Europa für die Parteien wichtiger?

Kaltenegger: Ich bin überzeugt davon. Erstens mit dem Lissabon-Vertrag in Kraft, das muss mit Leben erfüllt werden. Die ganze Mitbestimmung der nationalen Ebenen, der Parlamente, im agrarischen Bereich, das heißt ja etwas. Wir müssen die Debatte anders führen. Unsere Europaabgeordneten haben eine viel wichtigere Bedeutung als vorher. Das muss mit Leben erfüllt werden. Ich werde auch persönlich viel öfter da sein, um das Netzwerk am leben zu erhalten.

STANDARD: Wie sieht das Parteispektrum aus: Sehen sie, dass die SPÖ ihnen entgleiten, wenn sie an die Europapolitik denken, und umgekehrt, die Grünen als Neo-Europapartei immer näher kommen, inhaltlich? Die Grünen reden praktisch immer auch über Europa, wenn es um ihre politischen Ziele geht, bei der SPÖ scheint es umgekehrt zu sein.

Kaltenegger: Ja, mit Abstrichen. Einerseits wird die Vernetzung in Europa eine viel größere Bedeutung haben durch die Vernetzung als bisher. Die Themen liegen auf dem Tisch. Die gesamte Weltwirtschaft stellt sich neu auf, und Europa muss sich aufstellen. Da muss man eine Rolle haben, man muss sich auch etwas trauen. Die SPÖ hat das Thema Europa zu wenig wichtig genommen. Das nehme ich zur Kenntnis, soll mir recht sein. Unsere Position ist eine andere. Wir glauben, dass Europa wichtiger werden wird, das ist eine Entscheidung, in den Gremien, in der EVP sich einzubringen, weil dort die grundlegenden Entscheidungen für die Europapolitik gelegt werden. Dieser Kurs ist auch bestätigt worden in ganz Europa. Die Grünen haben bei den Europawahlen Erfolge, auf der nationalen Ebene haben sie Probleme. Deshalb ist der Versuch, europäische Themen nach Österreich zu holen, durchaus plausibel. Ob es aufgeht, wird man bei den nächsten Wahlen sehen. Auch das Thema, wo können wir Lösungen suchen, wird in einem größeren Zusammenhang zu suchen sein als auf der nationalen Ebene, Stichwort Klimaschutz, Wirtschaftskrise, Regelungen auf den Finanzmärkten. Dafür braucht man Geduld und ständige Präsenz.

STANDARD: Warum sind die Christdemokraten in Österreich im Vergleich zu anderen EU-Ländern relativ schwach?

Kaltenegger: Ich sehe nicht, dass wir schwach wären. Die Volksparteien sind in ganz Europa eher im Aufwind. Das hat eher etwas mit der Lösungskompetenz in der Wirtschaftskrise zu tun. Das wir Augenmaß und Hausverstand beweisen bei der Abmilderung der Krise. Sehe nicht, dass wir keinen Zulauf hätten. Aber es gibt bei uns ein spezielles Parteienspektrum.

STANDARD: Woher soll denn der Zuwachs für die ÖVP kommen?

Kaltenegger: Es hat ein kritisches Potenzial von unter 30 Prozent immer gegeben. Davon haben bisher auch die Grünen profitiert. Aber heute sind sie etabliert, mit allen Problemen, die damit verbunden sind. Wir haben etwas unter der FPÖ gelitten, aber es gibt jetzt wieder einen gewissen Zulauf. Das ist interessant, wenn man sich die Daten anschaut. Der Zulauf kommt von rechts und links der Mitte, das ist ein Großteil auf die Leadership von Josef Pröll zurückzuführen. Ihm traut man zu, die ÖVP zu einer siegfähigen Partei zu machen. Deshalb ist die Stimmung für uns gut. Die SPÖ hat Probleme, weil ihre linken Themen auf dem Markt mehrere Wettbewerber haben oder in Richtung FPÖ ein Problem haben. Den Blauen muss man sich inhaltlich stellen, nicht nur rhetorisch.

STANDARD: Was finden sie an Europa schlecht?

Kaltenegger: Was finde ich unter Europa schlecht? Darf ich eine Frage zurückschicken? Was verstehen sie unter Europa?

STANDARD: Die Europäische Union, mit Österreich inmitten.

Kaltenegger: Auf der einen Seite die Unübersichtlichkeit der Institutionen, was die Entscheidungsfindung betrifft. Das ist das größte Problem, draußen zu erklären, wie die Entscheidungen zustande kommen, der Rat, die Kommission, die Staats- und Regierungschefs. Und das zweite, Europa braucht Leadership, da gibt es einen Kritikpunkt, wir brauchen Führung, um Europa in der Welt zu vertreten.

STANDARD: Was finden sie gut?

Kaltenegger: Dass die großen Ziele Europas, die individuelle Freiheit in der persönlichen und wirtschaftlichen Weiterbildung, dass diese großen Ziele in Europa weiteentwickelt werden, dass man drauf bleibt, und dass das Friedensprojekt Europa, das in der Geschichte so noch nie dagewesen ist, hoffentlich in Zukunft auch so bleiben wird. (Thomas Mayer, DER STANDARD, derStandard.at, 26.11.2009)