15. Juli 1927, Straßenschlacht nach dem Justizpalastbrand: Die Kämpfe zwischen Polizei und Arbeitern forderten 94 Todesopfer

Foto: ÖNB

Die Großausstellung im Künstlerhaus ist der Versuch, die Zeit um 1930 erstmals umfassend darzustellen.

Wien - Beengter lebten Großstädter damals nur noch in Paris: Dort kamen 1929 sieben Bewohner auf 200 Quadratmeter. In Wien waren es sechs - während sich in London im Schnitt gerade einmal drei, in New York sogar nur zwei Menschen diese Fläche teilten.

Der akute Platzmangel führte in Wien zu einer Reihe illegaler Hüttensiedlungen am Stadtrand sowie zu einer steigenden Zahl sogenannter Bienenstockhäuser - Wohnbauten, in denen sich ganze Familien winzige Zimmer teilten. Das Rote Wien erachtete die Eindämmung des Wohnelends als zentral und ließ zwischen 1920 und 1930 400 neue Siedlungen mit 60.000 Wohnungen bauen.

Dank des frisch erworbenen Status als eigenes Bundesland konnte Wien außerdem erstmals selbst Steuern einheben - die die Stadtregierung in eine ganze Reihe neuer Sozialleistungen steckte. Unter anderem in das Säuglingswäschepaket für frischgeborene Stadtbewohner, das es noch heute gibt. Die Wiener Wohn- und Sozialpolitik der Zwanziger - und deren Vermarktung mittels Dauerpropaganda - ist ein Teil der bis zum 28. März 2010 im Wiener Künstlerhaus angesiedelten Ausstellung "Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930".

Unbekannte Zeit

Vom Direktor des Wien Museums Wolfgang Kos kuratiert, erstreckt sich die Schau über 17 Themenräume - von Jugendbewegung und Naturromantik bis Reklame und Konsum. Die politischen Konflikte zwischen Schutzbund, Heimwehr und Nationalsozialisten werden ebenso beleuchtet wie das kulturelle Leben in der großen Hauptstadt der kleinen Alpenrepublik. "Wir wissen eigentlich sehr wenig über diese Zeit", sagt Wolfgang Kos. "Wien wurde heller und schneller, dadurch wurden auch die Schattenseiten sichtbarer." Insgesamt sind 1800 Exponate zu sehen - von der Lederhose bis zur Straßenlaterne. "Die ans Gigantische grenzende Ausstellung", sagt Kos "stellt diese Zeit erstmals verknüpfend dar."

Im Erdgeschoß des vom Wien Museum eigens angemieteten Künstlerhauses werden die Tendenzen der Kunst sowie die politischen Konfliktfelder in Bild und Ton dargestellt, im ersten Stock geht's unter anderem um Heimatideologie und Freizeitgestaltung. Eine Million Euro hat das städtische Museum in die größte Ausstellung in seiner 50-jährigen Geschichte gesteckt.

Gestaltet wurden die in unterschiedlichen Farbtönen gehaltenen Räume vom Büro BWM Architekten & Partner. Grafiker Erwin Bauer steuerte eine eigens für Kampf um die Stadt gestaltete Schrift namens "Reklame" bei, die auch die eingehüllte Fassade des Künstlerhauses ziert.

Die Ausstellung wird von einer Reihe von Veranstaltungen begleitet. Unter anderem diskutiert Standard-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid mit Experten die Frage nach Parallelen zwischen heutiger und damaliger Wirtschaftskrise (10. Dezember, 19 Uhr, Wien Museum), Essayist Franz Schuh liest Ödön von Horváth (13. Jänner, 19.30 Uhr, Wien-Bibliothek im Rathaus), und Historiker Georg Rigele lädt zu einem Stadtspaziergang über die Höhenstraße (20. März, 14 Uhr). (Martina Stemmer / DER STANDARD, Printausgabe, 19.11.2009)