Das deutsche Fernsehen interviewt Patrus Ananias, den ersten Träger des Future Policy Award (Preis für Zukunftspolitik).

Foto: Roberta Caldo/MDS

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Armut geht zurück, immer mehr Brasilianer können sich elektrische Haushaltsgeräte leisten.

Foto: Reuters/Ricardo Moraes

Bild nicht mehr verfügbar.

Patrus Ananias bei der Preisverleihung in Hamburg.

Foto: epa/Ressing

Ein Viertel der 190 Millionen Brasilianer bezieht im Rahmen des Wohlfahrtsprogramms "Bolsa Familia" (wörtlich "Familienbörse") staatliche Unterstützung. Mit Milliardenaufwand versucht die Regierung Präsident Lulas, Armut und Unterernährung zu bekämpfen. Sogar die Weltbank hat die brasilianischen Sozialprogramme für ihre Kosteneffizienz gelobt. Im Gegensatz zu früheren Ansätzen sieht das Programm keine Lebensmittelverteilungen vor, sondern stellt Familien bis zu 200 Real (78 Euro) im Monat zur Verfügung, wenn sie ihre Kinder in die Schule und zu Kontrolluntersuchungen schicken.

Kritiker warnen, dass das brasilianische Modell die Empfänger der Zahlungen in Abhängigkeit vom Staat bringe, aus der sie sich nur schwer befreien könnten. Außerdem lehnen Teile der brasilianischen Gesellschaft Hilfszahlungen ohne konkrete Gegenleistung ab, weil dies "Faulheit fördere". Patrus Ananias, der als Minister für soziale Entwicklung und Hungerbekämpfung für das Programm verantwortlich ist, erklärt im E-Mail-Interview mit Berthold Eder, was die Welt von Brasilien lernen könnte.

***

derStandard.at: Das Wohlfahrtsprogramm "Bolsa Familia" verspricht der ärmsten Bevölkerungsschicht direkte Finanzzuwendungen, wenn Kinder zur Schule gehen und an Gesundheitsprogrammen teilnehmen. Gegner des Programms verurteilen diese Transferleistungen, weil sie "zur Faulheit animieren" sollen. Was wird unternommen, um Missbrauch der Sozialleistungen zu verhindern?

Patrus Ananias: Das ist eine große Herausforderung, die wir aber erfolgreich bewältigen. Vor allem ist es wichtig, die Datenbank, in der 16 Millionen arme Familien verzeichnet sind, aktuell zu halten. Allein, dass es diesen Kataster gibt, war eine der größten Leistungen der brasilianischen Sozialpolitik. Wir arbeiten mit Rechnungshof, Innenministerium und der staatlichen Anti-Korruptionsbehörde zusammen und bemühen uns, den Gemeindeämtern zu vermitteln, dass sie eine Mitverantwortung tragen. Im Internet veröffentlichen wir alle Empfänger von Transferleistungen.

derStandard.at: Was hat die Kirche an den Sozialprogrammen Präsident Lulas auszusetzen?

Ananias: Das Problem ist nicht die Kirche, sondern unsere ganze Gesellschaft: bisher war es unvorstellbar, dass der Staat die Verantwortung für die breitangelegte Armutsbekämpfung trägt. Man kann sich da nicht auf Wohltätigkeit verlassen, wie es lange Jahre der Fall war. Wir sind natürlich immer auf der Suche nach Kooperationspartnern, aber koordiniert müssen solche Programme von staatlicher Seite werden.

Wir suchen die Zusammenarbeit mit Unternehmern, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst sind, aber auch Kirchen, Universitäten, soziale Bewegungen und Gewerkschaften sollen eingebunden werden, solange die Hauptverantwortung beim Staat bleibt.

derStandard.at: Erwarten Sie, dass die Ausgaben für derartige Programme in absehbarer Zukunft messbare Mehreinnahmen für den Staat bewirken werden, weil Bevölkerungsteile, die bisher nicht am Wirtschaftsleben beteiligt waren, Steuern zahlen?

Ananias: Erste Verbesserungen sind bereits feststellbar. So hat eine kürzlich durchgeführte Haus- zu-Haus-Befragung ergeben, dass sich immer mehr Haushalte die Anschaffung von Geräten wie Herd, Waschmaschine oder Kühlschrank leisten können, und der Gini-Koeffizient ist von 0,535 im Jahr 2004 auf 0,515 im Jahr 2008 gesunken. Von 2003 bis 2008 ist es gelungen, die Armutsrate um 43 Prozent zu senken, und 19,4 Millionen Menschen haben die Armut hinter sich gelassen.

Aber wir wissen auch, dass die sozialen Unterschiede in Brasilien sehr groß sind und dass es nicht über Nacht möglich sein wird, dies zu ändern. Die Strategie ist auf Jahrzehnte angelegt. Derzeit bemühen wir uns, mit dem Programm "Próximo Passo" ("Nächster Schritt"), Arbeitskräfte für den durch die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 erwarteten Tourismusboom auszubilden.

derStandard.at: Warum gelingt es Brasilien im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern, mit diesen Armutsbekämpfungsprogrammen Erfolge zu erzielen?

Ananias: Alleine das vor sechs Jahren geschaffene Ministerium für soziale Entwicklung und Hungerbekämpfung gibt jährlich 33 Milliarden Real (über elf Milliarden Euro) aus, dazu kommen Beiträge anderer Ressorts. So betreibt das Bodenschätze- und Energieministerium das Programm  "Strom für alle", auch das Erziehungs- und Gesundheits- sowie Landwirtschaftsministerium haben eigene Projekte. In Summe geben wir heuer 152 Milliarden Real (60 Millarden Euro) für Armutsbekämpfung aus, das Gesundheitsbudget ist dabei nicht berücksichtigt.

derStandard.at: Sie wurden für das Armutsbekämpfungsprogramm, das Sie als Bürgermeister von  Belo Horizonte gestartet haben, mit dem "Future Policy Award" ausgezeichnet. Gibt es Bestrebungen, die Erfahrungen, die Brasilien mit dem "Fome Zero"-Programm gemacht hat, mit anderen Ländern zu teilen?

Ananias: Durchaus. Wir suchen die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen, aber auch einzelnen Staaten, die daran Interesse zeigen. In Mexiko und Chile gibt es ähnliche Programme, die Transferleistungen im Rahmen der Errichtung eines staatlichen Schutz- und Förderungssystems organisieren.

Chile macht bei der Armutsbekämpfung große Fortschritte, wie wir bei einem Internationalen Seminar über soziale Entwicklung, das wir hier in Brasilien veranstaltet haben, erfuhren. Auch mit mehreren südamerikanischen und afrikanischen Staaten arbeiten wir zusammen, und bei meinem Europa-Besuch im Jahr 2008 habe ich nach meinem Wien-Aufenthalt in Brüssel eine gemeinsame Absichtserklärung mit der EU unterzeichnet. Ich habe mich bei dieser Gelegenheit auch über die österreichischen Sozialprogramme informiert. (derStandard.at, 17.11.2009)