Es gebe eine "auffallende Ähnlichkeit" zwischen der heutigen Integrationspolitik und jener im Wien der Jahrhundertwende, meint Moritz Csáky

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Eine Figur im Böhmischen Prater in Wien-Favoriten: Hier fanden böhmische ArbeiterInnen ihre Parallelwelt der Wochenend-Unterhaltung

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derStandard.at: Wien war schon immer eine Zuwanderungsstadt: Um 1900 war mehr als die Hälfte der Wiener Stadtbevölkerung nicht in Wien geboren. Warum fällt es den WienerInnen heute trotzdem so schwer, sich als als Zuwanderungsgesellschaft zu sehen?

Csáky: Weil Migration immer mit Konflikten einhergeht. Das verdrängen wir. Je heterogener eine Situation, umso krisenanfälliger.

derStandard.at: Dennoch gibt es heute die Ansicht, Integration sei im 19. Jahrhundert weniger konfilktreich verlaufen - die TschechInnen in Wien hätten sich "besser integriert".

Csáky: Das stimmt absolut nicht. Diese Immigranten wurden nicht als "Eigene" angesehen, sondern als "Fremde", es gab enorme Repressionen.

derStandard.at: Welche Art von Repression?

Csáky: Ein Beispiel: Es gab eine Verfassungsbestimmung, dass alle Nationalitäten das Recht auf Gleichbehandung haben. Aber im späten 19. Jahrhundert hat man beschlossen, dass das für Tschechen in Wien nicht gelten soll. Man hat sich darauf ausgeredet, dass sie nicht in Wien "historisch verankert" wären, da sie zugewandert sind. Dabei waren von den 1,7 Millionen Menschen in Wien rund 500.000, die aus Böhmen und Mähren kamen. Man übersah völlig, dass sich die Bevölkerung im Zuge der Industrialisiserung geändert hatte. Und das ist uns heute ja auch geläufig.

derStandard.at: Wie wirkte sich dieses Gesetz aus?

Csáky: Das bewirkte, dass die 500.000 zugewanderten Tschechen in Wien keine staatlich anerkannten Schulen haben konnten. Um ein offizielles Schulzeugnis haben zu können, mussten sie ihre Kinder nach Böhmen oder Mähren schicken. Auch in der Öffentlichkeit Tschechisch zu sprechen, war absolut verpönt. Und alle Zugewanderten musste unter Bürgermeister Lueger einen Bürgereid auf Wien ablegen. Man musste schwören, den "deutschen Charakter" der Stadt zu verteidigen - egal, ob man ein Jude aus Galizien, ein Tscheche aus Böhmen, oder ein Ungar aus Tokay war. Wer den Eid nicht leistete, konnte jederzeit ausgewiesen werden. Es war eine völlige Zwangsintegration.

derStandard.at: Welche Folgen hatte diese Zwangsintegration?

Csáky: Sehr viele der in Wien lebenden tschechischen Intellektuellen waren wahnsinnig skeptisch gegenüber Wien und dem Staat. Und nach dem Ersten Weltkrieg gingen an die 200.000 von ihnen nach Tschechien zurück. Und bei denen, die blieben, wurden oft die Namen zwangsweise verdeutscht: Aus Dvořák wurde Dvorschak, und so weiter.

derStandard.at: War das einmal anders - wurde früher mehr Diversität zugestanden?

Csáky: Ja, bis 1848 ungefähr. Es gibt unter Josef II. eine Verordnung, dass alle Verlautbarungen in Wien zweisprachig sein müssen, auf Deutsch und auf Tschechisch. Das wäre um 1900 nicht mehr denkbar gewesen. Mit der Schulreform des 18. Jahrhunderts waren die einzelnen Nationalsprachen sogar gestärkt worden, weil der Unterricht nicht mehr in Latein abgehalten wurde, sondern in der jeweiligen Umgangssprache.

derStandard.at: Welche Klischeebilder gab es um 1900 über "den Böhmen" und "die Böhmin"?

Csáky: Am deutlichsten kam das in Alltagsgesprächen, in Witzen zum Ausdruck. Über den Tschechen hieß es, er sei behäbig, nicht sehr fleißig, die Tschechin koche gut, esse aber auch umso mehr, sie wurde auch in Karikaturen immer als sehr dick gezeichnet. Natürlich waren solche Beschreibungen nicht immer ernst gemeint - aber die politische Instrumentalisierung war enorm.

derStandard.at: Wie entstanden diese Bilder?

Csáky: Es ging darum, das "Fremde" zu konstruieren, eine bestimmte Gruppe als "anders" festzuschreiben. Man stärkte so die eigene Identität.

derStandard.at: Warum musste man das "Fremde" erst konstruieren, wenn es ohnehin Teil der Gesellschaft war?

Csáky: Ein typisches Menü der Wiener Küche besteht in der Gulaschsuppe, dem Wiener Schnitzel und den Powidltascherln. Diese Gerichte kommen aus Ungarn, aus Italien und aus Tschechien. Weder Gulaschsuppe, noch Schnitzel, noch Powidltascherl entsprechen den ursprünglichen Gerichten, sie sind verändert. Aber dennoch ist die Costoletta alla Milanese im Schnitzel immer noch spürbar. So ist es auch in gesellschaftlichen Prozessen. Der Migrant wird als etwas anderes wahrgenommen, allein durch die Sprache. Also schreibt man ihn gleich als "fix anders" fest.

derStandard.at: Um nicht in Gefahr zu kommen, sich etwas von ihnen abzuschauen?

Csáky: Migranten wollen sich der Mehrheitsgesellschaft anpassen. Aber sie verändern dadurch nicht nur sich selber, sondern sie verändern auch jene, denen sie sich angebiedert haben. Wir sehen das ganz deutlich im Antisemitismus: Die assimilierten Juden veränderten die Kultur der Dominanten. Gerade das sahen die Dominanten als Gefahr - und schließlich als Notwendigkeit, sich ihrer zu entledigen.

derStandard.at: Warum interessierte man sich für die böhmische Küche, wenn doch das Böhmische an sich nicht geschätzt wurde?

Csáky: Das ist ja auch heute so: Man schimpft allgemein über Italiener, und geht dann ums Eck Pizza-Essen. Die Küche ist eine Art der nonverbalen Kommunikation. Und das Nonverbale war schon immer immuner gegenüber Nationalismen als das Verbale.

derStandard.at: Ist das nicht eher ein Ausdruck der Wiener "Wurschtigkeit"?

Csáky: Nicht nur. Nehmen Sie die Musik, die ja auch Teil des Nonverbalen ist: Das heutige Wien verkauft sich touristisch mit Walzer, Polka, Mazurka, Csardas, Quadrille - beispielsweise beim Neujahrskonzert. Natürlich hat man die Polka immer mit Tschechien assoziiert, die Mazurka mit Polen, den Csardas mit Ungarn - aber trotz der negativen Aspekte im politischen Bereich, wo gestritten und unterdrückt wurde, wurde hier bewusst dieses "Fremde" rezipiert. Ich werte das als subversiven Protest einer jungen Generation gegen eine Politik, die sie ablehnt - wie es ja auch in der Popmusik der 60er-Jahre passierte.

derStandard.at: Warum führte Wien um 1900 eigentlich so exakte Statistiken darüber, wie viele ImmigrantInnen in der Stadt lebten?

Csáky: Man wollte die Gefahr bannen. Das war ja ein Mahnzeichen: "So viele Fremde sind heute in Wien". Es gibt alte Wienerlieder, die besingen, dass die Wiener nicht mehr in Wien zuhause wären, dass die tschechischen Arbeiter Wien zerstört hätten. Dazu muss man wissen, dass die tschechischen Arbeiter die Wiener Ringstraße erst aufgebaut haben. Und die Wiener haben das umgedreht, und haben nostalgisch das "alte Wien" besungen.

derStandard.at: Wie wirkte sich der Zwang zur Assimilation langfristig aus?

Csáky: Vor allem bei den Wienern hat es ein sehr gebrochenes Selbstverständnis zur Folge, das es auch heute noch gibt. Die Erkenntnis, dass man abstammungsmäßig bis heute sichtbar von Fremdheit durchsetzt ist, hat eine unglaubliche kritische, ironische Selbstreflexion zur Folge, und auch eine zutiefst verankerte Xenophobie. Dieser Fremdenhass richtet sich nicht nur gegen die Zugewanderten, sondern auch gegen das eigene Ich, das ja durchsetzt ist mit Fremdheit - man blättere nur durchs Wiener Telefonbuch.

derStandard.at: Wiederholt sich die Geschichte heute?

Csáky: Ich würde nicht "wiederholen" sagen, aber es gibt eine auffallende Ähnlichkeit. Und wenn jemand sagt, die Migranten früher hätten sich integriert, dann sage ich: Ob das auf Dauer, über Jahrhunderte hinweig, so bleibt, bezweifle ich. Man kann niemanden zwingen, Deutsch zu sprechen.

derStandard.at: Wo ist das Problem, wenn man Zugewanderten Deutschkenntnisse abverlangt?

Csáky: Um hier wirtschaftlich zu reüssieren, muss man Deutsch sprechen, das ist offensichtlich. Aber dass alle perfekt Deutsch können müssen, geht zu weit. Je mehr ich jemanden zwinge, eine andere Kultur zu übernehmen, umso mehr wird er sich seiner Andersartigkeit erst bewusst werden. Das heißt: Das Sich-Zurückziehen in die eigene Gruppe ist eine Reaktion auf die Zwangs-Assimilierung. (Maria Sterkl, derStandard.at, 15.11.2009)