Ein Kino, das Tradition und Gesellschaft neu in den Blick nimmt
Wien – Ein Mörder geht um in Japan. Er schleicht sich in ein Haus, durch die offene Tür sieht er dem Dienstmädchen beim Waschen zu. Sein Blick ist gierig. Er nimmt die Schweißtropfen in der Achselhöhle der Frau wahr, wie eine Witterung, die ein Tier aufnimmt.
Wenig später ist die Frau des Besitzers tot, und Shino, das Dienstmädchen, muss Auskunft geben über diesen "Phantomkiller" : Hat sie ihn schon einmal gesehen? Wem sah er ähnlich? Shino schweigt, denn der Mann war nicht zufällig in dieses Haus gekommen. Er war auf der Suche nach ihr gewesen, sie sind durch eine gemeinsame Geschichte verbunden, und diese erst macht aus Nagisa Oshimas Der Besessene im hellen Tageslicht (1966) einen besonderen Film.
Es ist nun nicht mehr einfach ein spekulativer Thriller um einen perversen Mörder, wie es die ersten paar Einstellungen vermuten lassen. In den Rückblenden taucht ein politisches Projekt auf, denn Shino und der "Phantomkiller" Eisuke haben einmal gemeinsam in einem landwirtschaftlichen Kollektiv gearbeitet. Ihr Leben stand im Zeichen von Demokratie, Brüderlichkeit, Solidarität. Aber eben auch im Zeichen von Lust, Demütigung, sexueller Rivalität, Ressentiment.
Wie Nagisa Oshima in Der Besessene im hellen Tageslicht Mitte der Sechzigerjahre die Formeln des japanischen Studiokinos mit zeithistorischer Bedeutung auflud, das wies dem Kino der Ära neue, unabhängige Wege. Es ist nur ein Moment in einer Karriere, die durch beständige Innovation gekennzeichnet ist, man könnte auch an zahlreichen anderen Punkten einsteigen, vor allem 1960, als innerhalb eines Jahres drei Filme herauskamen (Nackte Jugend, Das Grab der Sonne, Nacht und Nebel über Japan), in denen die Unruhe der ersten Nachkriegsgeneration eine politische Form bekam.
Eine Retrospektive der Filme von Oshima, wie sie derzeit im Filmmuseum zu sehen ist, lässt dabei seit langer Zeit wieder in einem größeren Überblick erkennen, welche Dynamiken hier am und im Werk sind: ein Kino nicht der Revolution, sondern der Subversion. Es geht von bestehenden Strukturen aus, setzt ihnen an einem bestimmten Punkt ein Konkurrenzmodell entgegen, das entschieden modernistisch ist, und gelangt dadurch erst an einen Punkt, an dem er das Traditionelle besonders radikal neu in den Blick bekommt.
Im Westen wurde Nagisa Oshima vor allem mit seinen beiden "Erotikdramen" Im Reich der Sinne (1976) und Im Reich der Leidenschaft (1978) bekannt, die lange Zeit den Blick auf die Vielschichtigkeit seines Werks ein wenig verstellt haben. Eine komplexe Frauenfigur wie Abe Sada, die ihren Geliebten immer ausgeklügelteren sexuellen Inszenierungen unterwirft und schließlich tötet, ist in der ambivalenten Beziehung in Der Besessene im hellen Tageslicht schon angelegt. Das rituelle Element, das Im Reich der Sinne auszeichnet (die Geschichte beruht auf einem in Japan mehrfach erzählten Fall), wurde immer mehr zu einem wesentlichen Interesse seiner Arbeiten, bis herauf zu seinem jüngsten Film Gohatto, einem sehr stilisierten Schwertkampffilm, in dem wie schon in Im Reich der Sinne der Tod zu einer Frage der Form zu werden scheint.
Radikal experimentell
Dem steht eine andere Richtung in Nagisa Oshimas Werk entgegen, die radikal experimentell ist und am besten durch Koshikei (Tod durch Erhängen) und Geheime Geschichten aus der Zeit nach dem Tokyo-Krieg vertreten wird. Letzterer lief schon einmal in Wien im Rahmen einer Viennale-Retrospektive zu der unabhängigen Art Theatre Guild (ATG), einem losen Verbund japanischer Autorenfilmer, die in den 60er-Jahren neue Wege beschritten. Der Geist dieser Jahre ist in Geheime Geschichten ... sehr präsent: Es ist die Zeit intensiver ideologischer Diskussion und radikaler Selbstüberschreitung. Ein junger Filmemacher läuft vor der Polizei davon und springt von einem Dach. Er stirbt und hinterlässt eine Kamera, aus der ein Freund einen Film entnimmt, den er gern als Testament lesen würde, das er "antreten" kann.
Es ist vielleicht der Wendepunkt in Nagisa Oshimas Werk – die Einsicht, dass die wahre Veränderung der Verhältnisse in deren Durchdringung und nicht in deren Überwindung liegt. Die Aporien, die dabei unausweichlich sind, bekommen in Koshikei eine definitive, absurde Form. Wer Oshima bis an diesen Punkt folgt, wird fortan mit einem anderen Koordinatensystem ins Kino gehen. (Bert Rebhandl, DER STANDARD/Printausgabe, 11.11.2009)