Sie baden in der Menge. Im Arbeitsmantel inspizieren sie Werkshallen, im Steirerjanker dirigieren sie Blaskapellen, in Gummistiefeln waten sie durchs Hochwasser. Hände werden geschüttelt, Bierfässer angestochen, Omas gedrückt, bis diese mit feuchten Augen schwärmen: "Jö, der Herr Minister versteht unsere Sorgen halt!"

Soweit das Selbstbild jener Politiker, die "Bürgernähe" für die höchste aller Tugenden halten. Selten wurde diese Lebenslüge so eindrucksvoll entlarvt wie in den vergangenen Wochen. Geschafft haben das couragierte Studierende, die Hörsäle besetzen und auf den Straßen für bessere Unis demonstrieren - erst am Donnerstag zogen wieder Tausende durch Wien. Ein derart lebhaftes Volk behagt dessen Vertretern nicht. Verunsichert, nervös und ängstlich reagieren die Regierenden, retten sich in Ausflüchte, verteilen Placebos. Nur das Naheliegende kommt ihnen nicht in den Sinn: Mit den Studenten einfach einmal zu sprechen.

Da ist etwa der Wissenschaftsminister, der sich gerne als liberaler Freigeist stilisiert. In Interviews glänzt er mit philosophischen Bonmots, doch will ein Teil der künftigen intellektuellen Elite seine Politik diskutieren, ist er plötzlich schmähstad. Tagelang fiel Johannes Hahn nur ein, mit wem er nicht reden wolle. In knapp drei Wochen lässt sich Herr Kommissar in spe nun zu einem "Dialog" herab. Hinauszögern bis nach seinem Abflug nach Brüssel konnte er den Termin dann doch nicht.

Verklemmt zeigt sich auch der Kanzler. Werner Faymann achtet sogar bei der Urlaubsplanung darauf, nicht abgehoben zu wirken, aber auf ein Bier mit ein paar Studenten im Audimax schafft er es nicht. Da könnte am Ende ja sogar der eine oder andere Pfiff ertönen - und von der Kronen Zeitung wiedergegeben werden.

Selbst der sonst so joviale Vizekanzler scheut den Auftritt ohne Netz. Statt sich mit (politisch) schmuddeligen Hörsaalbesetzern herumzuschlagen, wählt Josef Pröll seinen Quotenjugendlichen via Internet lieber selbst aus, um ihn als "Superpraktikant" mit auf Tour zu nehmen. Irgendein adretter Nachwuchsschwarzer, der schon mit 20 alt ist, wird sich finden lassen.

Warum sollte es anders laufen? Auch Politiker können selten aus der eigenen Haut heraus. Generationen von ihnen sind in den traditionellen Kaderschmieden von SPÖ und ÖVP aufgewachsen, in den Vorfeldorganisationen oder den Hinterzimmern der Sozialpartnerschaft. Jeder Kämmerer, jeder Gewerkschafter findet bei ihnen ein offenes Ohr - da kann er die Regierung noch so oft abgewatscht haben.

Jene hingegen, die sich außerhalb der alten Umlaufbahnen bewegen, haben viele Politiker auch im 21. Jahrhundert nicht auf dem Radar. Dort entstehen immer größere Lebenswelten, von denen sie wenig verstehen. Zu Studenten und anderen jungen Menschen ist der Kontakt fast schon abgerissen. Lobbys in den Parteien haben diese keine.

Die blinden Flecken spiegeln sich in der Politik wider. Die aktuelle Regierung ist stark, wenn sie in den eingefahrenen Bahnen navigieren kann. Die Krise bekämpft sie mit Bauprogrammen, Verschrottungsprämie und kreativer Arbeitsmarktpolitik - handwerklich sauber und mit einigem Erfolg. Doch Fantasie, Verständnis und Wille für zukunftsträchtigere Investitionen fehlen. Während der Betonmischer auf Hochtouren läuft, wird bei der Bildung jeder Cent zweimal umgedreht. Das spüren nicht nur die Unis. An den Pflichtschulen, wo soziale Sorgenkinder auf überforderte Lehrer treffen, ticken Zeitbomben.

Er sehe "keine Veranlassung, noch etwas Weiteres zu machen", sagte Hahn am Freitag, nachdem er einen Notgroschen von 34 Millionen lockergemacht hatte. Es ist zu befürchten, dass der Minister das wirklich glaubt. (Gerald John/DER STANDARD-Printausgabe, 7./8. November 2009)