Hamburg - Die deutsche Justiz hat einem Bericht des "Spiegel" zufolge Vorermittlungen gegen einen Zeugen im Verfahren gegen den mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher John Demjanjuk eingeleitet. Der 88-jährige Samuel K. sei "dringend verdächtig, Beihilfe zu der grausamen Ermordung von mindestens 434.000 Menschen geleistet zu haben", schrieb das Nachrichtenmagazin am Sonntag.
Dem in der Nähe von Bonn lebenden K. werde vorgeworfen, ähnlich wie Demjanjuk zu einer Gruppe ausländischer Helfer gehört zu haben, die von der SS zum Massenmord im besetzten Osteuropa eingesetzt worden sei.
K. bewachte laut "Spiegel" unter anderem Juden im Vernichtungslager Belzec in Polen. Über seine Vergangenheit berichtete er dem Magazin zufolge bereits mehrfach deutschen Ermittlern: 1969, 1975, 1980 und zuletzt im Juni dieses Jahres. "Uns war allen klar, dass dort die Juden vernichtet und später dann auch verbrannt wurden", zitierte der "Spiegel" aus einer Aussage des 88-Jährigen.
Der Prozess gegen Demjanjuk soll am 30. November beginnen. Der gebürtige Ukrainer war im Mai nach einem monatelangen Rechtsstreit aus den USA nach Deutschland abgeschoben worden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen vor. Demjanjuk soll 1943 für ein halbes Jahr KZ-Wächter im NS-Vernichtungslager Sobibor gewesen sein.
Nebenkläger
Zu Beginn des Prozesses gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher John Demjanjuk Ende November in München wird ein Großaufgebot von Nebenklägern erwartet. Rund 20 Nebenkläger wollen am 30. November zum Auftakt ins Landgericht München II kommen, wie der Nebenklägervertreter und Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler der Deutschen Presse-Agentur (dpa) sagte. Insgesamt seien mindestens 35 Nebenkläger zugelassen.
Sie alle haben im Nazi-Vernichtungslager Sobibor im von Hitler-Deutschland besetzten Polen nahe Angehörige verloren. Der gebürtige Ukrainer Demjanjuk soll dort als Wachmann geholfen haben, die in Massentransporten ankommenden Juden zu vergasen. Die Anklage wirft dem 89-Jährigen Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen vor.
Die Nebenkläger wollten keine harte Strafe für Demjanjuk, sondern Wahrheit und Gerechtigkeit, sagte Nestler, der zusammen mit mehreren Kollegen rund 30 der Nebenkläger vertritt. "Der Weg ist das Ziel: Jeder, der verantwortlich war für die Morde an ihren Familienangehörigen, muss sich bis zum Lebensende seiner Verantwortung stellen." Die Zahl der Nebenkläger könnte noch weiter steigen: Unter anderem bei einigen Überlebenden aus Sobibor ist laut Nestler offen, ob sie den entsprechenden Antrag beim Gericht stellen.
Das Verfahren sei sehr ungewöhnlich, verglichen mit den bisherigen Prozessen gegen mutmaßliche NS- und Kriegsverbrecher. "Die Konstruktion der Anklage ist geradezu revolutionär im Vergleich zu allen anderen großen NS-Verfahren in der Vergangenheit." Früher sei immer auf die einzelnen Täter und ihre Exzesse geschaut worden. "Hier geht es um die Vernichtungsmaschinerie, in der Demjanjuk eine Funktion gehabt hat."
250.000 Tote
Insgesamt starben in Sobibor nach Schätzungen binnen zweieinhalb Jahren 250.000 Menschen. Demjanjuk, als Rotarmist in deutsche Gefangenschaft geraten, wurde im SS-Ausbildungslager Trawniki zum Wachmann ausgebildet und kam nach Sobibor, wo ihn die Nazis mit rund 100 anderen Trawniki als Helfer ihrer Vernichtungsmaschinerie einsetzten. Dass Demjanjuk Trawniki geworden sei, könnte man nachvollziehen, da er sich selbst retten wollte, sagte Nestler. "Dass er in Sobibor geblieben ist, hat mit retten nichts mehr zu tun", betonte der Nebenklägervertreter. "Während ringsherum in Osteuropa für alle die Gefahren des Krieges drohten, war das Leben in Sobibor für die Trawniki angenehm - um den Preis der Beteiligung an der fortwährenden Ermordung von Tausenden von Juden."
Die Opfer-Angehörigen, die am Prozessauftakt teilnehmen wollen, kommen aus den USA und aus Israel, vor allem aber aus den Niederlanden. Vier der bisher zugelassenen Nebenkläger waren selbst in Sobibor und haben die Vernichtungsmaschinerie überlebt. Insgesamt leben noch neun ehemalige Häftlinge - bis auf einen kamen sie bei dem Gefangenen-Aufstand im Oktober 1943 frei, nach dem das Lager geschlossen wurde. (APA)