100 und eine Sekunde lang küssen im "101 Tower" , Taipehs höchstem Büroturm, ist gerade der letzte Schrei unter Festlandschinesen, die nach Taiwan reisen, um sich das Ja-Wort geben. Hochzeitsreisen auf die Inselrepublik, die Peking immer noch als abtrünnige Provinz aus den Bürgerkriegsjahren betrachtet, wären vor zwei Jahren noch schwer vorstellbar gewesen. Doch Entspannung und Freundlichkeiten über die Taiwanstraße hinweg sind das eine, die mittlerweile 1500 Raketen, die Chinas Armee auf Taiwan richtet, das andere.
Die Raketen müssten endlich weg, verlangte Ma Ying-jeou, Taiwans smart auftretender Präsident, dessen Wahl im März 2008 die Eiszeit in den Beziehungen mit dem kommunistisch-kapitalistischen Festland beendete. Zumindest ein Abbau dieser Raketen in der Provinz Fujian auf der Taiwan gegenüberliegenden Festlandsseite sei als vertrauensbildende Maßnahme notwendig, bevor über ein Friedensabkommen verhandelt werden könne. Tags darauf veröffentlichte Taiwans Verteidigungsministerium sein Weißbuch. Die Schlussfolgerung des Militärberichts: Engere Beziehungen zur Volksrepublik China verhindern nicht automatisch einen Krieg.
Die Verteidigung der einzigen vollständigen chinesischen Demokratie ist ein Dilemma. "Militärisch kann man China nicht abschrecken" , meinte Andrew Yang, ein renommierter Sicherheitsexperte, in einem Gespräch in Taipeh, einige Wochen nach Ma Ying-jeous Wahl. Unterirdisch in Deckung gehen, Verteidigungs- und Kommunikationssysteme vervielfachen, um den Schaden durch einschlagende chinesische Raketen zu begrenzen, und dann auf die US-Marine warten - das sei die einzige realistische Antwort auf einen Angriff durch China. "Wir können nicht mit Chinas Aufrüstung mithalten" , wiederholte Yang noch kürzlich bei einem Besuch in Wien, "wir müssen stattdessen Kapazitäten definieren und die Ausgaben auch rechtfertigen" ; mehr als zwei Milliarden US-Dollar für die Verteidigung im Jahr sind nicht drin. Kurz danach wurde der Politikwissenschaftler Vize-Verteidigungsminister.
30 Jahre ist der Beistandspakt nun alt, der die USA verpflichtet, die Mittel zur militärischen Verteidigung der Inselrepublik bereit zu stellen, das heißt, Waffen, Schiffe und Flugzeuge zu verkaufen und im Kriegsfall zu intervenieren. Rüstungsgeschäfte mit Taiwan belasten aber immer Washingtons Beziehungen zu Peking. Jahrelang hatte dazu auch Ma Ying-jeous Kuomintang-Partei in der Opposition ein umfangreiches Rüstungspaket der USA blockiert - allein, um die damals regierende Demokratische Fortschrittspartei DDP zu ärgern, aber eben auch mit Rücksicht auf die politische Führung auf dem chinesischen Festland.
Jetzt glaubt Taiwan an die Lieferung von 15 Black-Hawk-Hubschraubern, hat US-Präsident Barack Obama erst einmal seinen Besuch in Peking im nächsten Monat hinter sich. Dazu steht immer noch die Bewilligung von 66 F-16-Kampfjets aus. Washington hat die Überprüfung der Taiwanpolitik von Vorgänger George W. Bush noch nicht abgeschlossen. Peking einbinden, ist alle Mal besser, als mit einer Waffenlieferung an Taiwan auf die Nase zu schlagen, bleibt die Devise. Fast eineinhalb Stunden dauerte ein Gespräch von US-Verteidigungsminister Robert Gates mit Chinas zweithöchstem Militär, Xu Caihou, Anfang dieser Woche im Pentagon. Es war das erste Treffen dieser Art seit drei Jahren. Der Dialog zwischen den Militärs beider Länder müsse stetiger werden, meinte Gates.
Die rote Linie, die große Zäsur bei der militärischen Balance im Pazifik ist dabei für die USA wie Taiwan dieselbe: der Bau des ersten chinesischen Flugzeugträgers. Für die US-Marine würde es dann schwerer, Taiwan im Kriegsfall zu Hilfe zu kommen. (Markus Bernath/DER STANDARD, Printausgabe, 29.10.2009)