Besetzen, nicht besitzen: Die Leute von La Oubliette sind derzeit in einer alten Schule zu Hause.

Foto: Philipp Draxler

Zwei Augen lugen durch den Spalt, verschwinden wieder, dann klickt das Schloss und die Eingangstür springt auf. Obwohl der Zugang zu dem heruntergekommenen Betonklotz auf der Wandsworth Bridge Road in London zunächst wie das Entrée eines Geheimbundes wirkt, taucht man ohne Codewort in den verborgenen Mikrokosmos dieser aufgelassenen Schule ein.

Ein liberaler Club entpuppt sich da. Aber zu "La Oubliette" (deutsch: die Vergessenen) kämen ohnehin nur Leute, die interessiert und engagiert seien, erklärt Dan, Gründer und Hausherr, sofort. "Facechecks" , sagt der stämmige Mann im klassischen Tweed, "sind selten nötig. Nur, um Polizisten und aggressiven Einzelfällen den Zutritt zu verwehren."

Zahlreiche Besucher haben sich bereits eingefunden: Handwerker, Maler, Musiker, Akademiker. Die einen streichen oder tüfteln, andere reden - und staunen. Zwei (Italiener) sind in eine rege Diskussion über die Feuchtigkeit im Gebäude vertieft, während ein polnischer Zeitgenosse ein Zimmer weiter dreckige Pinsel auswäscht. Ein schmächtiger Brillenträger entlockt einem elektronischen Gerät melodiöse Klänge, dazu philosophiert ein Professor des London College of Communications über die Sinnlosigkeit urbaner Platzverschwendung, bis er den Umherstehenden enthusiastisch einen weiteren Typen vorstellt: "Das ist Simon, Herz und Gründer von ,DA!‘"

Vereinigungen wie "La Oubliette" oder "DA!" sind mittlerweile bekannt, nicht nur in Hausbesetzer-Kreisen. Zahlreiche britische Tageszeitungen berichteten ausgiebig über die "Posh Squatters" (schicke Hausbesetzer), die eine 20-Millionen-Pfund-Villa in Mayfair, Londons Hochburg der Upperclass, besetzten, bis sie nach zwei Monaten aufgrund eines Gerichtsbeschlusses weiterziehen mussten.

Simon erzählt, dass "DA!" gerade wieder obdachlos sei, aber zum Glück gäbe es Künstlervereinigungen mit ähnlichen Idealen, wie eben "La Oubliette" . Die Englischschule ist das 21. Objekt in Dans siebenjähriger Hausbesetzer-Karriere. Das liberale Gesetz in Großbritannien hat zu einer breitgefächerten Szene geführt. Zurzeit leben und arbeiten in England über 70.000 Menschen in sogenannten "Squats" . Laut der autonomen "Empty Homes Agency" stehen allein in London rund 83.000 Gebäude leer. Simon zog in den vergangenen vier Jahren mit seiner amorphen Gruppe auch dreimal um. Immer nobel gelegen: Erst 14 Monate auf Highstreet Kensington, dann vier Wochen in Knightsbridge und schließlich zwei Monate in Mayfair.

Es gibt verfallen und abgerissen, es gibt benutzt und funktionierend. Und: Es gibt "Limbo" . Ein in der Theologie gebräuchlicher Ausdruck für den Zustand zwischen Leben und Tod, erklärt Simon. Seiner Meinung nach sollten Hausbesetzer diesen "limbotischen" Zustand beenden, die Gebäude aus dem urbanen Fegefeuer hieven und ihnen neues Leben einhauchen. Wenn Besetzungen einen prinzipiellen Sinn haben, dann die weise Nutzung der Ressourcen. Die Presse schrieb oft über "antikapitalistische Kritik" der Squatter, damit kann sich Simon nur am Rande identifizieren. Sein Ziel: Einen zentralen Ort finden, damit Menschen aus ganz London zu DA! kommen. Und nicht: Radau in einem Reichenviertel schlagen.

Für den 30-jährigen Vater, der sich, Frau und Tochter mit 90 Pfund Sozialhilfe in der Woche versorgt, bedeutet Erfolg, Menschen zusammenzuführen. Unabhängigkeit von finanziellen Mitteln und Bürokratie machen für ihn das Squatten aus. So wie früher Aristokraten und Gutbetuchte als Kunstförderer agierten, ihnen Kost und Logis zu Verfügung stellten, sieht Simon seine gegenwärtige Beziehung zum Staat: "Ich nütze seine Ressourcen, bekomme ein wenig Geld und wohne in einem Gemeindebau. Im Gegenzug dazu schaffe ich Kunst."

Alternative zum goldenen Käfig

Der 35-jährige Dan war vor seinem Leben als urbaner Nomade unter anderem bei der Credit Suisse beschäftigt und führte ein normales Upperclass-Leben im Nobelbezirk Chelsea. Mit 28 kam der Bruch: Er tauschte seinen konventionellen Lebensstil für das ein, was er als Freiheit bezeichnet. Arbeitslosigkeit und eine ungesicherte Lebenssituation als Alternative zum goldenen Käfig. Wenn heute das Geld nicht reicht, muss der Supermarkt-Müll für das Abendessen herhalten. Die Straße bietet alles, sagt Simon: Kleidung, Möbel, Nahrung - man muss nur zugreifen. In seinem Zimmer des "La Oubliette" -Squats steht trotzdem ein nagelneuer Apple-Computer, der nicht so aussieht, als ob er auf der Straße gelegen wäre. Bei Bedarf, erzählt der Aussteiger, arbeitet er als Grafikdesigner - freiberuflich, versteht sich.

Prinzipiell fällt "Squatten" in England unter das Zivil-, nicht unter das Strafrecht. Daher, egal ob legal oder illegal, bedarf es eines Gerichtsbeschlusses zugunsten des Besitzers, um Squatter loszuwerden. Das dauert mindestens einen Monat. Voraussetzung für eine Hausbesetzung ist eine leerstehende Liegenschaft. Es muss gewaltlos eingedrungen werden, das heißt, ohne eine Scheibe einzuschlagen oder ein Schloss aufzubrechen. Jedoch: Wo kein Zeuge, da auch kein Täter. Nachdem ein Gebäude besetzt wurde, muss sichtbar eine Notiz an die Tür geheftet werden. Dann werden die Schlösser ausgetauscht, und solange die Besetzer im Gebäude physisch anwesend sind, darf sich niemand, auch nicht Besitzer oder Polizei, ohne Gerichtsbeschluss Zutritt verschaffen.

Hausbesetzer oder solche, die es werden wollen, informieren sich am besten im Squatters Handbook. Der handliche Ratgeber deckt alles rund ums Thema ab: Wie man am besten eine Stromleitung anzapft, ein Schloss ein- bzw. ausbaut oder sich gegen die Polizei wehrt. Durchschnittlich dauert es drei Monate, bis man gegangen wird, in Einzelfällen auch viel länger. Theoretisch würde nach zwölf Jahren der Besetzer zum Besitzer.

Dan ist heute in Feierlaune, ihm wurde gerade vom Bezirksgericht das Bleiberecht zugesprochen. "La Oubliette" darf in der ehemaligen Englisch-Schule mit den rund sechzig Räumen und einem großen Keller bleiben. Entdeckt hat er sein Objekt der Begierde bei einem Spaziergang. Wenn Fenster und Türen vernagelt und Mauern mit Graffiti übersät sind, kann angenommen werden, dass der Besitzer sich nicht mehr kümmert. Auf Google Earth forschte Dan weiter, um sich so über die Nachbardächer Zutritt zu verschaffen.

Was von außen heruntergekommen wirkt, wird von den Hausbesetzern mit einem speziellen Innenleben wettgemacht. Drei Räume im Erdgeschoß bilden den Aufenthaltsbereich. Ein in die Mauer geschnittener Kreis, mit einem leuchtend neongrünen Plastikring verkleidet, führt ins nächste Zimmer, eine gelb leuchtende Ellipse in ein weiteres. Drinnen stehen Sofas, Leute sitzen darauf und unterhalten sich. Es gibt auch eine Galerie mit zahlreichen minimalistischen Fotos von Industriemaschinen und einen 300 Quadratmeter großen Keller mit einer kleinen Bühne und hunderten Postern an den Wänden. Das "Kellertheater" wurde mit dem Stück The Case der Theatergruppe Donkeywork eingeweiht, im Guardian wurde berichtet.

Die Tatsache, dass man hier nichts kaputt machen kann, wirkt befreiend. Konventionen sind für diese umgewidmete Fläche also passé. Ähnlich verhält es sich mit der Hausbesetzerszene an sich. Die scheint alle Klischees, die noch aus radikaleren Hausbesetzerzeiten stammen, in die Gegenwart zu transformieren.

Schauplatz dafür ist meist East London, ähnlich dem East Village in New York oder dem Prenzlauer Berg in Berlin. Mitläufer mit mehr Geld und weniger Kreativität kaufen sich hier ein, um bei diesem Lifestyle zwischen Bourgeoisie und hippem Hotspot dabei zu sein. Mittlerweile sind die "rough edges" von Kunst und Kultur abgeschliffen und die Workingmen's Pubs und Clubs mutieren zu schicken Organic Food Restaurants. Die City, Heimat der großen Bankhäuser Londons, brach architektonisch über die Liverpool Street hinein und pflanzte zahlreiche Wolkenkratzer, die sich stetig in Richtung Osten ausbreiten.

Auf den Straßen im hippen Shoreditch, im Herzen des Londoner Ostens, drängeln sich junge Fashionistas auf Flohmärkten und in Second-Hand-Läden. Ihre Kleidung wirkt wie eine Hommage an die subkulturelle Mode der letzten vier Jahrzehnte. Die Preise erinnern eher an Highstreet Fashion. Hier vermengt sich Punk mit Hippie, Indy und einem dunkelblauen Anzug - alles womöglich im Kleiderschrank einer Person.

War der Punker nicht einer, der auf der Straße herumlungert und Geld für das nächste Bier schnorrt? Seit die Modedesignerin Vivienne Westwood den "Punk" auf den Laufsteg brachte, offensichtlich nicht mehr. Die gegenwärtige, spaßorientierte, aber auch politisch motivierte Generation hat die Karten noch einmal neu gemischt. Wer heute ein besetztes Haus noch immer mit einem Crackloch voll asozialer Aussteiger assoziiert, ist von gestern.

Die gesellschaftliche Messlatte für East London verlagerte sich von der Kriminalitätsstatistik hin zu den Immobilienpreisen. Hier bezahlt man heute für eine privatisierte Council-Estate-, sprich Gemeindebau-Wohnung mit 60 Quadratmetern um die 1200 Pfund (ca.1600 Euro) anstatt 300 Pfund wie vor zehn Jahren. Plötzlich konnten sich die Gründungsväter, Studenten, mittellose Künstler und Kreative, die Miete nicht mehr leisten. Der Trend forderte seinen ökonomischen Tribut und einige Betroffene reagieren - und besetzen wieder Häuser.

Mehr Geld, weniger Kreativität

Die Stereotypisierungen vorangegangener Generationen verblassen also und überleben nur noch in klischeebefleckten Vorstellungen manch Konservativer. Was einst stilistischer Ausdruck politischer Gesinnung und Sozialkritik war, verwandelte sich, auch wegen der mächtigen Modeindustrie, ganz einfach zu "Fashion" . Die modische Hausbesetzerszene besteht heute aus einem wilden Potpourri - Studenten, Künstler, Autonome und Aussteiger.

Historisch betrachtet ist Squatten ein junges Phänomen. Alles begann 1945, mit der Heimkehr der in Deutschland stationierter britischer Soldaten. Sechs Jahre Baustopp, 100.000 zerbombte Häuser und kaputte Infrastruktur waren das architektonische Vermächtnis des Zweiten Weltkrieges in England. In der Nachkriegszeit fand sich eine Million Veteranen mit Familie ohne Obdach in ihrer Heimat wieder. Nachdem die britische Regierung das Problem anfangs ignorierte, mussten sich die obdachlosen Staatsdiener selbst helfen.

Die geistigen Urgroßväter von "DA!" und "La Oubliette" waren wohl die "Vigilantes" , die erste autonome Vereinigung, die auch mit Fäusten gegen die Häuserknappheit vorging. Damals durch Not und nicht durch künstlerischen Freiheitskampf motiviert, squatteten sie Ferienhäuser in Brighton und brachten dort Veteranen unter. Gleichzeitig organisierten sich die "camp squatters" , die mit der Besetzung verlassener Kasernen hunderten Familien ein Quartier verschafften. Inspiriert vom "Do it yourself" -Motto der Vigilantes wurde 1968 die "London Squatters Campaign" (LSC) gegründet, die durch "living demonstrations" , das heißt Massen-Squats in ausgewählten Gegenden, auf das Problem der Obdachlosigkeit hinweisen wollte. Einerseits galt der bloße Akt der Okkupierung als ein politisches Signal, andererseits agierte er nicht nur als Aufruf zur Veränderung, sondern verbarg die Lösung schon in sich: Man setzte sich in ein leerstehendes Haus, um dagegen zu demonstrieren, dass es leersteht.

Schließlich kippte das positive Image: Als sich 1968 über 500 Freigeister, Hippies und auch zahlreiche Mitglieder der Motorradgang Hell's Angels im berühmtesten besetzen Haus seiner Zeit, 144 Piccadilly, auch bekannt als "Hippiedilly" , einnisteten, begann eine siebentägige Hommage an Freiheit, Liebe und Exzess, die schließlich von einer Truppe Polizisten gestürmt wurde. Drogen und Exhibitionismus brachten den Besetzern schlechte Schlagzeilen. Dieses in der Gesellschaft fest verankerte Image exzessiver Anarchisten ist das Erbe, das sich bis in die Gegenwart zieht.

Vergleicht man die politisch motivierte Vergangenheit mit einer eher zweckorientierten Gegenwart, so ziehen beide Bewegungen Kreise, die sich im Laufe der Geschichte ergänzen. So ist in dem Fall die Politik Mittel zum Zweck und durch diesen Zweck, nämlich die Nutzung des Platzes, wird wiederum Politik gemacht. Das Hausbesetzertum agiert heute auch als soziale Schnittstelle, an der Vertreter verschiedener Gesellschaftsschichten zusammenkommen.

"Bourgeois Bohemians", kurz Bobos, Kinder aus reichem Hause, die den familiären und wirtschaftlichen Fallschirm geschultert haben, leben hier den urbanen Traum des mittellosen Künstlers - der wiederum diesen Lebensraum mehr aus Not und weniger als Tugend kreativ und mit weniger finanziellen Möglichkeiten gestaltet. Und es tummeln sich hier auch all jene, denen ihr hart erarbeitetes Geld zu schade ist, um es in überteuerte Quadratmeter zu investieren.

Auf der Strecke, oder besser gesagt auf der Straße bleiben hier allerdings die tatsächlich sozial Schwachen, die ein Dach über dem Kopf am allerdringendsten brauchen würden. Zu kompliziert ist die Logistik und zu klein der Enthusiasmus, um sich auf die urbanen Schlupflöcher des englischen Rechtes zu stürzen und zu stützen. (Philipp Draxler, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 24./25./26.09.2009)