Hoffte im Exil auf ein freies Österreich: Alfredo Bauer, dessen jüngstes Buch "Mythen-Szenen" Menschheitsdramoletts enthält.

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Alfredo Bauer mit Enkel Leonardo und Sohn Jorge. Auf dem Besuchsprogramm stand eine Kranzniederlegung im Donaupark bei den Denkmälern für Allende, Che Guevara und Simon Bolivar.

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Bauer über Lateinamerikas Zukunft: "Ein Zusammenschluss dieses Kontinents wird viel leichter sein als ein Zusammenschluss Europas."

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STANDARD: Obwohl Sie 1939 als 15-Jähriger mit Ihren Eltern aus Österreich vertrieben worden sind, haben Sie so genannte "Österreichhasser" stets kritisiert. Was sagen sie Ihnen?

Bauer: Manche Leute hassen Österreich, um zu rechtfertigen, dass sie nicht den Faschismus hassen. Es waren die Feinde Österreichs, die uns vertrieben haben.

STANDARD: Haben Sie als Heranwachsender keinen Hass erfahren?

Bauer: Natürlich. In der Volksschule waren ganz normal die Klassen beisammen. Ich hatte eine liebe Lehrerin, aber in der Religionsstunde hat der Katechet die Kinder aufgehetzt. Ich habe einen Buben geschlagen, weil er mir gesagt hat, ich habe den Herrn gekreuzigt. Ab 1934 gab es in Mittelschulen für Juden getrennte Klassen. Die Initiative kam auch von der israelitischen Kultusgemeinde, die bewusste Juden wollte. Gewöhnliche Sportkämpfe zwischen den Klassen sind dann ausgeartet zu Feldschlachten, auch nach der Schule, auf der Straße. Ich hatte einen Nachbarbuben zum guten Freund, wir sind zusammen in die Schule gegangen. Aber das ist nicht geduldet worden. Er wollte Pfarrer werden aber ich habe jetzt, vor ein paar Tagen, erfahren, dass er in Russland gefallen ist.

STANDARD: Trotz allem war ihr Verhältnis zu Österreich positiv?

Bauer: Meine Familie wird seit vier Generationen mit Österreich und mit Wien identifiziert. Mein Urgroßvater hat bei der Revolution 1848 mitgekämpft als Student, mein Großvater war Gemeinderat und hat sich mit Lueger herumgeschlagen. Meine Mutter hat geglaubt, man wird nicht weg müssen, aber nach der Kristallnacht natürlich nicht mehr.

STANDARD: Warum ging die Familie nach Argentinien?

Bauer: Wir hatten das Glück, dass mein Vater eine Schwester in Argentinien hatte. Wer ging schon nach Argentinien? Wer etwas ausgefressen hatte. Das hatte zwar nicht meine Tante, aber ihr Mann, das war ein kleiner Hochstapler, dem verdanken wir unser Leben.

STANDARD: Sie besuchten die Pestalozzi-Schule. War die zweisprachig?

Bauer: Sie legte wert darauf, als argentinische Schule zu gelten, mit deutscher Unterrichtssprache und natürlich mit Spanisch. Die Lehrer waren alle politische Flüchtlinge – linke Sozialdemokraten und Kommunisten. Die anderen deutschen Schulen waren alle gleichgeschaltet von der Nazi-Botschaft. Aber die Pestalozzi-Schule war eindeutig dagegen, hat auch eine humanistische Gesinnung den Kindern ganz bewusst vermittelt. Und besonders denen, die ein bisschen Kultur mitbrachten. Da war ein Lehrer, den ich verehre, er hat mein ganzes Leben geprägt, August Siemsen, war sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter gewesen, der es geschafft hat, uns in einem Jahr die deutsche klassische Literatur zu vermitteln und auch etwas von der klassischen deutsche humanistischen Philosophie.

STANDARD: Und wie kamen bei Ihnen die österreichischen Aspekte, mit Nestroy, Karl Kraus und Jura Soyfer dazu?

Bauer: Es gab da sehr bald eine Bewegung "Freies Österreich" in Buenos Aires.

STANDARD: Wer hat die gegründet?

Bauer: Die haben drei oder vier adelige Personen gegründet. Unter den Hitler-Flüchtlingen in Argentinien waren Sozialdemokraten, manche ganz orthodox, die haben nicht mitgemacht.

STANDARD: Diese Sozialdemokraten waren großdeutsch eingestellt?

Bauer: Ein bisserl ja. Sie meinten, die Österreicher sind ein konservative Spielart, sie wird einmünden in das Lager der Reaktion. Bei Austria Libre waren Sozialisten, Kommunisten und sehr viele Unpolitische dabei. Die deutschen Hitlergegner, das war ein ganz kleiner Teil, der sammelte sich im "anderen Deutschland", von Siemsen geleitet, die konnten keine Massenbewegung zustand bringen. Aber wir Österreicher schon. Es gab 2000 Mitglieder und eine Jugendgruppe, wo ich gleich beteiligt war. Wir haben noch während des Krieges Stücke von Jura Soyfer gespielt.

STANDARD: Bekannt ist ja die Bewegung "Free Austria", die von österreichischen Emigranten während des Zweiten Weltkriegs in London getragen wurde. Von denen sind nach dem Krieg ja viele zurückgekommen.

Bauer: Von uns nicht. Es gab aber auch einen österreichischen Weltjugendrat.

STANDARD: Gab es da Kontakte zu London?

Bauer: Ja, sehr enge sogar, nur keine physischen, wie sollte man denn damals in Verbindung bleiben? Aber die zweitstärkste und ebenso aktive Jugendorganisation war die unsere, nach England. Wir haben noch während des Krieges Stücke von Jura Soyfer zugeschickt bekommen, wir haben sie gespielt.

STANDARD: Warum haben sich damals diese Linken für ein unabhängiges Österreich engagiert?

Bauer: Einerseits, weil es richtig ist. Wie die Bürgerlichen darüber gedacht haben, kann ich nicht sagen. Die österreichischen Kommunisten vertraten diese Linie. Theoretisch hatte das Alfred Klahr längst ausgearbeitet, und dann Ernst Fischer.

STANDARD: Sie sind in Buenos Aires aufgewachsen, in dieser Umgebung, sind nach und nach auch ein Argentinier geworden. Haben sie das bewusst gemacht, oder war es ein Prozess?

Bauer: Wir dachten ans zurückgehen. Aber es ist von den jungen Leuten keiner zurückgegangen. Und das hatte auch damit zu tun, dass man in die Kriegskonjunktur hineingekommen ist. Wer arbeiten wollte, kam schnell vorwärts. Die Überwindung der Entwurzelung hat unterschiedlich lang gedauert, bei mir 30 Jahre. Aber das heißt nicht, dass wir uns abgesondert hätten. Die Freie Österreichische Jugend hat sehr geholfen, weil man ja die deutschsprachige Kultur gebraucht hat.

Dann gab es den sozialistischen Verein Vorwärts, der immer noch existiert, der hatte einen Landsitz im Grünen. Das hat man sehr notwendig gebraucht. Die Argentinier sind damals nicht ins Grüne gefahren. Dann ist die Freie Deutsche Bühne entstanden, das war sehr notwendig. Aber wir, die Jugend, haben uns nicht abgesondert. Wir haben sofort Kontakte zur argentinischen Studentenbewegung gehabt, wir haben denen gezeigt, wie man rausfährt, mit Rucksack und Zelt, das haben die nicht gekannt und sehr gern angenommen. Wir haben Lager gemacht. Wald gibt es dort nicht, den habe ich sehr vermisst, und die Berge. Hingegen gibt es das Delta des Paraná-Flusses.

STANDARD: Und Sie sind dann Arzt geworden, Gynäkologe?

Bauer: Ich glaube, dass ich von dieser Einwanderungswelle der erste war, der einen akademischen Titel hatte. Es hat meine Eltern große Opfer gekostet und mich auch. Mein Vater hat gesagt, wir werden, wenn es notwendig ist, von Wasser und trockenem Brot leben, aber der Sohn wird studieren.

STANDARD: Haben Sie sich damals schon literarisch betätigt?

Bauer: In diesem Alter betätigt sich jeder literarisch. Aber ich habe sehr bald auch fürs "Argentinische Tageblatt" geschrieben.

STANDARD: Also auf Deutsch.

Bauer: Immer deutsch, später dann Spanisch auch. Ich schreibe auch auf Spanisch. Merkwürdigerweise in letzter Zeit immer mehr.

STANDARD: Was von ihnen in der DDR erschienen ist, diese Familiengeschichte, die war ja ursprünglich auf Spanisch und das ist so übersetzt worden, dass aus Semmeln "Brötchen" wurden.

Bauer: Ja eben, die haben sich sehr bemüht, das Österreichische zu respektieren, das geht aber nicht. Seither erlaube ich nicht, dass jemand ins Deutsche übersetzt und nicht ich selber.

STANDARD: Der Schriftsteller Frederic Morton, der ein Wiener in der Emigration in New York und genau Ihr Jahrgang ist, spricht wienerisches Deutsch, schreibt aber auf Englisch.

Bauer: Es waren jüdische Migranten, die in die USA gegangen sind, und die sagten: ich werde nie wieder deutsch sprechen. So kämpften sie gegen den Nazismus. Und: Ich möchte ein Amerikaner werden. Kulturmässig waren die Europäer doch, gelinde gesagt, auf der gleichen Höhe wie die Amerikaner. So etwas hat es in Argentinien nicht gegeben. Außerdem haben die Amerikaner ja verlangt, dass sie dem Kulturgut, das sie mitbringen, einen Fußtritt geben. In Argentinien hat das niemand von uns verlangt. Man hat verlangt, dass die argentinische Nationalkultur geachtet wird und das haben wir auch gemacht. Aber es war willkommen, dass wir Kultur mitgebracht haben.

STANDARD: Sie haben ja sogar den Martín Fierro in die deutsche Sprache übertragen, das argentinische Nationalepos von José Hernández.

Bauer: Ja, es gab davon Übersetzungen, die mich nicht befriedigt haben.

STANDARD: Hat dieses Epos für die Argentinier nicht auch einen nationalistischen Charakter?

Bauer: Es ist das Nationalepos, nicht nationalistisch. Die argentinische Nation hat eine dreifache Wurzel: Die Indios, die Kreolen (im Land geboren, aber europäischer Abstammung) und die Einwanderer. Zur Nationsbildung gehören die Einwanderer dazu und wenn man unter national versteht, dass jedes Land selbst entschieden soll, ohne Einmischung von außen, so sind wir national. Es wird auch gesagt, dieser José Hernández sei rassistisch gewesen. Nein, aber er musste den Gaucho schildern, wie er war. Den Indios gegenüber war der Gaucho ein Rassist.

STANDARD: Ich habe einmal in einer Bar in San Telmo in Buenos Aires einen Einwanderer aus Korea gesehen, der auf seiner Gitarre Akkorde anschlug und dazu aus dem Martín Fierro deklamierte: Soy gaucho, y entiendaló/Como mi lengua lo explica: /Para mi la tierra es chica. („Ich bin ein Gaucho, versteht: Was heißt’s ein Gaucho zu sein? Für mich ist die Erde klein").

Bauer: Das wird einen Argentinier nicht im Geringsten stören, im Gegenteil, er wird sich freuen. Soy gaucho, y entiendaló ...

STANDARD: Es gab dann auch erste Veröffentlichungen ... Und wie war das in Österreich? Da gab es ja ziemliche Schwierigkeiten? Ihr Freund Erich Hackl hat erzählt, dass die Dokumentationsstelle für neue österreichische Literatur zuerst einmal desinteressiert war?

Bauer: Habe ich vom Tagebuch meines Urgroßvaters aus der Revolution erzählt, das sich erhalten hat? Mein Urgroßvater hat ein politisch-historisches Tagebuch geführt. 1848, er wurde dann aus der Fakultät relegiert, aber das Tagebuch, mit Gänsekiel geschrieben, hat seine Enkelin bekommen, meine Tante. Die ist in das KZ nach Theresienstadt gekommen, und hat überlebt. Sie hatte das Tagebuch versteckt gehabt und dann mir gebracht. Wenn man das sieht, muss man einen Roman schreiben. Das habe ich auch gemacht. Und zwar auf Spanisch, weil ich mir dachte, das weiß man in Österreich eh. Es war aber nicht ganz so. (Trügerischer Glanz. Roman einer Wiener Bürgerfamilie 1849-1892. Übers. a. d. Span.: Christiane Barckhausen. Berlin: Verlag der Nation, 1986.) Das ist dann als erster Roman herausgekommen und ich dachte mir, da muss man weitermachen. Es wurden fünf Bände. Die ersten zwei kamen in der DDR heraus, sonst auf deutsch nichts. Aber vielleicht nächstes Jahr…

STANDARD: Wann sind Sie denn das erste Mal wieder nach Österreich gekommen?

Bauer: 1957, mit dem Schiff über den Atlantik, mein Sohn Jorge war ein Jahr alt.

STANDARD: Und welchen Eindruck hatten Sie?

Bauer: Ich hatte mir für die Zukunft etwas anders – eine revolutionäre Umwandlung – vorgestellt. Aber auch so – ich war nie irreal in meiner inneren Beziehung zu Österreich.

STANDARD: Das war ja die Zeit, als die ÖVP den Ton angab.

Bauer: Ja, im Rahmen des Proporzes. Mein Vetter hatte einen hohen Posten, er war Polizeiarzt. Er sei zufrieden, sagte er mir. Er könne zwar nie einen Posten kriegen, wenn nicht ein Schwarzer auch einen kriegt, aber er könne auch nicht hinausgeschmissen werden, wenn nicht ein Schwarzer auch hinausgeschmissen wird.

STANDARD: Sie haben später ja einmal Probleme damit bekommen, wie Österreich auch mit seinen Emigranten umgeht.

Bauer: Das war bei der Wanderausstellung "Wie weit ist Wien" über vertriebene Künstler, die in Wien gezeigt wurde und dann später in Buenos Aires, da waren viele Künstler, die ich gut kannte. Auch von mir haben sie dort etwas gebracht. Aber was mich gestört hat, war, dass da ein Bild von der Familie Starhemberg war. Ernst Rüdiger, der Fürst, war noch dazu in Heimwehruniform. Und ich habe mich beklagt: Erstens ist er kein Künstler, zweitens wurde er nicht vertrieben und ist auch sonst keine sympathische Erscheinung. Wenn er aber gezeigt wird, dann doch nicht in Heimwehruniform. Da sagte man mir, man konnte kein anderes Bild auftreiben.

Seine Frau Nora Gregor sei Schauspielerin und sein Sohn, Heinrich Rüdiger Starhemberg, sei Schriftsteller. Dagegen lässt sich nichts einwenden. Man sagte mir, man werde das Bild wegnehmen, doch in Buenos Aires war es wieder da. Nicht nur das: Auch Heinrich Rüdiger Starhemberg, der Schriftsteller, war da. Ich fragte, ist das ein Faschist? Und man sagte mir, nein, ein konservativer Katholik, er lebe in Barcelona und manchmal auch in Buenos Aires.

Es wären einige dagewesen, die über die Emigration hätten sprechen können, doch der Botschafter ließ Starhemberg reden. Ich habe mir seine Arbeiten angeschaut, ein guter Schriftsteller war er zweifellos. Ich habe mir das dann angehört, er sprach über die Familie Starhemberg im Exil auf Spanisch. Ich fand das nicht richtig. Doch ich habe es mir angehört. Aber nach zehn Minuten bin ich weggegangen. Er sagte, die Tiroler Kleinbauern sind verjagt worden durch die linken Räuber – "bandoleros" – und der Fürst Starhemberg mit seinen Milizen musste sich gegen sie zur Wehr setzen. Da bin ich weggegangen.

Ich habe dem "Argentinischen Tageblatt" einen Leserbrief geschrieben, der auch veröffentlicht wurde. Und mein Freund Erich Hackl hat ihn dem STANDARD geschickt, der ihn auch veröffentlichte. Da drin stand auch noch, dass der Putsch von 1934 letzten Endes auch gegen die Unabhängigkeit von Österreich gerichtet war. Darauf wurden DER STANDARD und ich wegen Verleumdung verklagt. Zwei der Klagen wurden abgewiesen.

Außerdem hat der Herr Starhemberg behauptet, der Ausdruck bandolero bedeute Landstreicher und nicht Räuber, doch ich hab auf das Diktionär Slaby/Grossmann verwiesen, dass ich Recht habe. Dann hat man mich vor das Landesgericht St. Pölten zitiert und ich habe gesagt, ich komme, aber nur, wenn man mir die Reise zahlt. Denn wenn ich wirklich verurteilt und eingesperrt werde, so schreibe ich ein Buch über meine Erfahrungen als politischer Gefangener in einem österreichischen Gefängnis. Das wird ein Bestseller.

Übrigens bin ich kein Held, in ein argentinisches Gefängnis oder ein anderes lateinamerikanisches würde ich nicht gehen. Der Prozess fand dann doch ohne mich statt. Drei Tage später starb dann Heinrich Rüdiger von Starhemberg, so wie auch ziemlich plötzlich sein Vater gestorben war, weil er von einem Journalisten fotografiert worden war.

STANDARD: Starhemberg war ja auch in Argentinien gewesen, aber er kam 1956 nach Schruns in Vorarlberg, wo ihn der Journalist Georg Auer (damals und bis 1969 bei der "Volksstimme" der KPÖ, später war er Motorjournalist der "Wochenpresse") erkannte und fotografierte. Es heißt, Fürst Starhemberg habe ihm mit hoch erhobenem Gehstock gedroht und sei dann tot umgefallen.

Bauer: Zuvor hatte sich Starhemberg in Argentinien gemeldet und wollte bei der Bewegung Austria Libre mitarbeiten. Wir Linken hätten dagegen scharf protestiert, aber das war gar nicht notwendig, weil vorher schon die Rechten protestiert haben.

STANDARD: In Argentinien hat man sich mit Österreich wohl kaum beschäftigt, höchstens mit Jörg Haider ...

Bauer: Wir haben in Buenos Aires eine ganz große Kundgebung gemacht, mit argentinischen Kräften, als Protest gegen Haider. Auf der Straße vor der Botschaft und bei der Schauspielergewerkschaft. Das war vor 2000.

STANDARD: Für Links eingestellte Menschen gab es zwischen 1976 und 1982 sehr harte Jahre, unter der Militärdiktatur in Argentinien.

Bauer: Weiß Gott! Aber nicht, dass die Argentinier die Emigranten befeindet hätten.

STANDARD: Es gab unter den Opfern ja auch welche aus Zuwandererkreisen.

Bauer: Unbedingt. Unter den Ermordeten war Gisela Tenenbaum in Mendoza, das ist die Tochter von ganz lieben Freunden. Sie hatten drei Töchter und jetzt haben sie zwei. (Erich Hackl hat ihr Schicksal in seinem Buch "Als ob ein Engel" beschrieben, Anm.)

STANDARD: Haben sie damals selbst auch Druck verspürt, in ihrem Beruf als Arzt?

Bauer: In der Privatpraxis nicht, aus dem Spital bin ich schon entfernt worden, bevor die Diktatur kam. Angst hatten wir natürlich, vor allem um unsere Kinder. Denn jung sein war an sich schon gefährlich. Mein Stiefsohn, der jung gestorben ist, war zufällig einer Verhaftung auf der Straße entgangen, als er Flugblätter bei sich hatte.

STANDARD: Die argentinischen Regierung der Kirchners sehen sie eher positiv?

Bauer: Sehr widerspruchsvoll. Und die Schwierigkeiten, die sie haben, die kommen zum Großteil aus ihrer eigenen Bewegung heraus. Aber die Präsidentin, Cristina Fernandez de Kirchner, die bewundern wir sehr. Wegen ihres persönlichen Formats.

STANDARD: Sie haben über die Jahrzehnte die österreichische Politik verfolgt und in Buenos Aires, wie sie sagten, auch an einer Demo gegen Haider teilgenommen. Ist es nach Haider jetzt wieder akzeptabler in Österreich?

Bauer: Was heißt nach Haider? Jetzt gibt es den Strache. Ich habe den Eindruck, der hat mehr Erfolg als Haider. Andererseits hat mir ein junger Mann erzählt, dass es in seinem Gymnasium Friedensgruppen gibt, die mit Israelis und Palästinensern arbeiten.

STANDARD: Teil ihrer Wienreise ist es auch, gemeinsam mit ihrem Sohn Jorge und dem Enkel Leonardo im Wiener Donaupark bei den Denkmälern für Allende, Che Guevara und Simon Bolivar Kränze niederzulegen. Allende und Guevara waren ja auch Ärzte. Gibt es da einen Zusammenhang mit ihrem Engagement für die Armen.

Bauer: Ja, oder Victor Adler ... Sun Yat-sen, Michelle Bachelet ...

STANDARD: 1989 war für sie ein tragisches Jahr, hört man. Was ist da für Sie unter gegangen? War der "reale Sozialismus" für sie etwas Positives im Gesamtkomplex der Welt?

Bauer: Durchaus. Natürlich gab es da historisch unterschiedliche Gegebenheiten. Frankreich, Italien und Griechenland waren ganz reif für eine sozialistische Umwandlung. Aber sie lagen im Westen und das ging nicht. Polen war durchaus nicht reif, aber es lag im Osten. Aber es gab dort Länder wie Bulgarien, wo das ganz von unten kam und selbst in der Tschechoslowakei war es 1948 eine vom Volk getragene Bewegung. Ein Wunder war die DDR, denn wo konnte man da etwas aufziehen?

Mir hat in Santiago de Chile, wo ich als Dolmetscher eingesetzt war, Erich Honecker (im Exil 1993/94, Anm.) gesagt: "Wir waren 400 Menschen aus den Gefängnissen, und 400 aus der Sowjetunion zurückgekehrte Flüchtlinge, unter diesen Umständen mussten wir einen neuen Staat und eine soziale Umwälzung durchsetzen. Das war ein verzweifeltes Unterfangen und wir hatten nur einen einzigen Faktor für uns: nämlich die Disziplin und den Respekt des deutschen Volkes vor der Regierung, das gefällt uns nicht. Was hatten wir denn sonst?" Und sie haben einiges geschaffen. Zum Beispiel die sozialistische Einheitspartei, das war nichts Oktroyiertes. Und es hieß immer: wenn die Mauer fällt, dann ist Schluss, keiner will das.

Jetzt ist die Mauer schon 20 Jahre weg und es stellt sich heraus, sie sind noch immer die stärkste Partei, dort, in manchen Provinzen die zweitstärkste. Und darüber, wie stark der neue linke Block im Westen dazu gewonnen hat, wird auch kaum geschrieben. Dass der neoliberale Westerwelle in Deutschland gewonnen hat, darüber wird geschrieben. Dass vor fünf Jahren die PDS zwei Abgeordnete hatte, vor zwei Jahren 54 und die Linke jetzt 80 hat und im Saarland die stärkste Partei ist, und in den Städten wie München und Hamburg, Düsseldorf stark ist, das sind Tatsachen. Das ist schon etwas von unten gewesen. Aber nicht in Polen. Es wäre gut gewesen, wenn man Frankreich und Polen hätte austauschen können.

STANDARD: Sie sind bei Ihren Ansichten geblieben? Jetzt gibt es zum Beispiel Debatten über den Hitler-Stalin-Pakt.

Bauer: Der Hitler-Stalin-Pakt heißt für mich, dass man das Münchner Abkommen auseinander manövriert hat. Hitler ist doch groß gemacht worden, um ihn gegen die Sowjetunion zu hetzen. Und einen Nichtangriffspakt darf man mit dem Teufel seiner Großmutter auch abschließen. So wurde später der Anti-Hitler-Pakt möglich. Und mit 70 Millionen Toten hat man den Krieg gegen Hitler ja doch gewonnen.

STANDARD: Jetzt sehen sie wieder positive Entwicklungen auf der Welt?

Bauer: Vor allem in Südamerika. Da gab es ein Treffen sämtlicher Staatschefs von Lateinamerika und Afrika (Ende September auf der venezolanischen Insel Margarita), aber in Europa wurde kaum darüber berichtet. Das ist etwas Unglaubliches. Abgesehen davon, dass ein Staatenblock Lateinamerikas jetzt eine gemeinsame Bank gegründet hat, löst man jetzt auch die Probleme gemeinsam. Ein Phänomen, das noch beachtlicher ist als Cristina Fernandez (linksperonistische Präsidentin Argentiniens) und Evo Morales (erster indigener Präsident Boliviens). Morales war mit 15 Jahren noch Analphabet und konnte nicht Spanisch. Es hieß, solche Leute können nicht an die Regierung, da lacht man ja. Aber jetzt sind sie an der Regierung und können das auch ganz gut.

STANDARD: Hätten Sie erwartet, dass so etwas über Wahlen überhaupt möglich ist?

Bauer: Nein, aber es ist jetzt schon mehrmals geschehen. Das Phänomen ist gewissermaßen bei Lula (Präsident Brasiliens und ehemaliger Stahlarbeiter, Anm.) das gleiche. Abgesehen davon, dass es ja auch in Venezuela über Wahlen ging.

STANDARD: Aber Venezuelas Präsident Hugo Chavez ist auch in linken Kreisen nicht so unumstritten. Manche sagen, der ist auch ein Populist.

Bauer: Populist ist eigentlich jemand, der nicht fürs Volk ist, sondern nur so tut.

STANDARD: Jemand, der mehr verspricht, als er halten kann…

Bauer: ... oder halten will, wie Argentiniens Peron, zum Beispiel.

STANDARD: Mit Peron haben Chavez schon etliche verglichen.

Bauer: Natürlich. Aber zu unrecht. Peron wollte sehr gern als Freund von Castro gelten, doch vergeblich. Kuba hat sich selbst gerettet, nachdem das sozialistische Lager zusammengebrochen war. Unglaublich. Der erste Atemzug nachher ist durch Venezuela gekommen. Das ist jetzt auch der größte Handelspartner, dann kommt gleich China.

STANDARD: Im Fall Kuba gibt es ja auch lateinamerikanische Intellektuelle, die sich im Lauf der Jahre etwas kritischer definiert haben.

Bauer: Es gibt da nicht viele, nur Mario Vargas Llosa. Der ist nach wie vor ein großer Schriftsteller, aber sonst ... Lump ist er keiner.

STANDARD: Worin sehen sie die neuen Chancen für Lateinamerika?

Bauer: Ich glaube, es ist eine echte Revolution, ich sehe auch besonders den Faktor des Zusammenschlusses. Ein Zusammenschluss dieses Kontinents wird viel leichter sein, als ein Zusammenschluss Europas, mit der spanisch- portugiesischen gemeinsamen Sprache, sogar die Religion hat damit zu tun. Es gibt viele gemeinsame Traditionen, so dass sich da ein Block bilden kann. Es könnte sein, dass sich da wie in Italien und Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine geeinte lateinamerikanisch Nation bildet, aber zumindest ein Völkerblock.

STANDARD: Und der neue US-Präsident Barack Obama gehört auch zu den Hoffnungen oder ist der in diesem Zusammenhang für Sie egal?

Bauer: Egal ist er natürlich nicht. Ich glaube, dass die Wahl eines so ausgerichteten Politikers und eines Schwarzen ein historisches Phänomen ist. Doch er hat nicht die Macht. Die Macht haben dieselben wie früher. Aber dass eine solche Wahl möglich gewesen ist, das kann verglichen werden mit Abraham Lincoln, als das auch kein Mensch erwartet hat und es dann plötzlich große Bedeutung hatte.

STANDARD: Jetzt auch für Kuba?

Bauer: Naja, er hat aber für Kuba nichts gemacht, gerade nur ein bisschen. Aber für die fünf kubanischen Gegenspione, die in Miami lebenslänglich im Kerker sind, für die hätte er doch leicht ein bisserl etwas machen können. Auch die Leute, die den Putsch in Honduras gemacht haben, das ist dieselbe Macht wie unter Bush, nur haben sie nicht mehr den Präsidenten. Der gestürzte Präsident Zelaya hat gesagt, wenn die USA es wollten, so dauerte die Putschregierung nicht mehr als fünf Minuten. (Erhard Stackl, 24.10.2009)