Foto: Photodisc

Der Homo Oeconomicus, Untergruppe Gemeiner Investmentbanker, ist ein serienmäßig mit feinster Sensorik ausgestatteter Zeitgenosse. Mit fünf seiner sechs Sinne wittert er Geld, sprich den Bonus (den sechsten braucht er zur Unterscheidung des guten vom ausgezeichneten Champagner), und er vermag dieser Fährte selbst dann noch zu folgen, wenn sich andere von der Hetzjagd um den am obszönsten geleverageden Swap - aus schlichtem Schamgefühl oder aus einer komplexen Auffassung von Stolz heraus - schon längst davongestohlen haben.

Ein so ein Schamgefühl ist ihm gottlob völlig fremd, und so hat er die Wirtschafts- und Finanzkrise bisher im Wesentlichen dazu genutzt, seine Zehen zu zählen. Die Nachricht, dass die G20-Staaten unlängst in Pittsburgh eine Beschränkung von Manager-Boni beschlossen haben, hat ihm dann aber schon die linke obere Nasenmuschel spürbar anschwellen lassen. Zwar nur kurz, aber für seine Verhältnisse war das ein echter Mega-Gefühlsausbruch - falls es denn so etwas überhaupt gab, etwas Echtes.

Aus der Krise waren bekanntlich immerhin zwei von fünf großen US-Investmentbanken gestärkt hervorgegangen. Und als die beiden vor wenigen Tagen ankündigten, dass sie demnächst schon wieder Milliardenboni ausschütten wollen, hat das der Gemeine Investmentbanker wohlwollend zur Kenntnis genommen. Als Nachrichtenagenturen ferner die Meldung verbreiteten, dass auch die Londoner City nicht umhinkomme, sich auf einen "Boni-Boom" vorzubereiten, hörte er zu zählen auf (bis sieben war er gekommen), versetzte seinen sechsten Sinn in Bereitschaft und schlug den "Guardian" auf.

Dort las er, dass es nicht nur ein Gebot der Stunde war, dort weiterzumachen, wo er nie aufgehört hatte, sondern vielmehr sogar ein quasi göttlicher Plan. Der Vizepräsident von Goldman Sachs International, Lord Griffiths, hatte in der Londoner St. Paul's Cathedral nämlich vor Publikum angemerkt, dass die Öffentlichkeit die Ungleichheit, die dem Boni-System immanent sei, halt einfach akzeptieren müsse, und zwar als nichts Geringeres als "eine Gelegenheit, höheren Wohlstand für alle zu erreichen". Von den Boni profitiere schließlich die gesamte Wirtschaft, so Griffiths, ein früherer Berater der Premierministerin Thatcher. Würden die Boni per Gesetz gekürzt werden, verließen die Besten der Branche den Finanzplatz London - und damit wären auch die großen Banken regelrecht gezwungen, abzuwandern, warnte er. "Wir sollten uns deshalb nicht schämen, Boni anzubieten, die dafür sorgen, dass auf dem international umkämpften Markt die Banken hier bleiben und hier Menschen beschäftigen."

Damit hat er der Tendenz nach Recht, dachte sich da der Gemeine Investmentbanker. Leider musste er aber eingestehen, dass der Lord, der alte Fuchsjäger, die Lunte nicht so richtig hundertprozentig gerochen hatte. Die Banken hätten es nämlich nie so weit kommen lassen dürfen, dass der plötzlich völlig auf sich allein gestellte Bonusnehmer mit Problemen konfrontiert wurde, die ihre Ursache doch im Zusammenspiel der gesamten Branche - und darüber hinaus! - hatten. Malversationen, die in Vorgangsweisen wurzelten, die - von einem Einzelnen verfolgt und isoliert betrachtet - doch nicht einmal das somalische BIP um einen Zehntelprozentpunkt erschüttern konnten! Kollektiv gesehen waren die Folgen natürlich weit um sich greifend - aber der Gemeine Investmentbanker war doch einerseits nie und nimmer als Kollektiv zu betrachten! Und andererseits: Weit um sich zu greifen, dafür war er doch da!

Ventilierend legte der Gemeine Investmentbanker die Zeitung weg. Seine Nasenmuscheln pochten. Wenig später las er die Zeilen nochmals. "Gelegenheit" stand da, "höherer Wohlstand", und "für alle". Er dachte nach. Ihm selbst war die "gesamte Wirtschaft" ja Krokodillederjacke wie Seidenhose. Aber wenn dem Griffiths, dieser Koryphäe, diesem Halbgott, das so am Herzen lag - seinetwegen. Er konnte das ja mal versuchen, das mit der Wohlstandsvermehrung. Gleich morgen würde er damit anfangen. Sicherheitshalber zunächst mal bei sich selbst. (Martin Putschögl, derStandard.at, 23.10.2009)