"Umbenennung des Dr.-Karl-
Lueger-Rings in Dr.-Elise-
und-Helene-Richter-Ring wäre recht und billig", meint der Leiter des Forschungsprojekts über die beiden feministischen Schwestern.
Bilder: www.onb.ac.at

Am 21. Juni 1943 stirbt die renommierte Romanistik-Sprachwissenschafterin Elise Richter ein knappes Jahr nach ihrer Schwester Helene im Konzentrationslager Theresienstadt. Knapp 60 Jahre später nehmen zwei österreichische Wissenschafter in Leben und Werk der beiden hochbegabten Wiener Schwestern Einblick - an jenem Ort, an dem Elise als erste habilitierte Frau Österreichs lehrte und forschte.


"Das Institut für Romanistik der Universität Wien hat seine Geschichte lange verdrängt. Zumindest heute erinnert eine Büste am Institut an Elise Richter und an ihren Beitrag zur Romanistik": Seit einem halben Jahr beschäftigt sich der Romanist Robert Tanzmeister mit Leben und Werk der beiden Schwestern, deren ungefähr 2500 Briefe, 300 Publikationen, 60 Jahre lang geführte Notizbücher sowie unzählige Schriften derzeit in einem vom Wissenschaftsfonds finanzierten Projekt aufgearbeitet werden.

Emanzipiert und selbstbestimmt

Die beiden Persönlichkeiten, die das Wiener Geistes- und Kulturleben der 20er- und 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt haben, werden dabei erstmals als eine Art Gesamtkunstwerk präsentiert: "Die beiden Schwestern haben sich symbiotisch ergänzt. Die eine kann nicht ohne die andere analysiert werden. Zu verwoben sind ihr Schaffen und Leben. Sie bildeten eine Diskussionsgemeinschaft und funktionierten als Einheit", meint Projektleiter Tanzmeister. Unkonventionelle Lebensentwürfe hätten die beiden gepflegt: "Sie haben emanzipiert und selbstbestimmt zusammen gelebt, wollten sogar gemeinsam ein Kind adoptieren", erzählt Thierry Elsen, wissenschaftlicher Projektmitarbeiter. Das Leben der beiden Töchter aus großbürgerlichem und somit privilegiertem Haus verläuft von Beginn an nicht in den für Frauen vorbestimmten Bahnen.

Elise: Erste Vorlesung einer Frau an der Uni Wien

Die beiden Schwestern eignen sich selbst, zu Hause, das Schulwissen an, das ihnen die Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund ihres Geschlechtes verwehren will. Elise ist dennoch eine der ersten Frauen, die 1897 maturiert und im selben Jahr an der philosophischen Fakultät der Universität Wien immatrikuliert. 1901 erfolgt die Promotion, 1907 die Habilitation sowie die erste Vorlesung, "ein damals revolutionäres Ereignis", sagt Tanzmeister. Erst 1921 wird ihr als erster Frau in Österreich der Titel der "außerordentlichen Universitätsprofessorin" verliehen.

In der Friedens- und Frauenbewegung engagiert

Neben der akademischen Lehre und Forschung zur romanischen Sprachwissenschaft, Literatur und Phonetik ist sie partei- und gesellschaftspolitisch in der Friedens- und Frauenbewegung engagiert sowie an Fragen der Bildungspolitik und Mädchenerziehung interessiert. Modern mutet auch Elises Auffassung von Wissenschaft vom heutigen Standpunkt aus an, steht sie doch für einen interdisziplinären Ansatz, der dem damaligen Trend der Spezialisierung entgegensteht.

Helene: theaterbiografische Tätigkeiten

Weniger institutionalisiert, dafür aber auch "freier" verläuft das Leben der vier Jahre älteren Schwester Helene, die auf ein Universitätsstudium verzichtet. Neben publizistischen Tätigkeiten macht sie sich als profunde Kennerin der englischen Romantik und als Theaterkritikerin einen Namen. "Was für Elise die Universität bedeutet, ist für Helene das Burgtheater", meint Elsen. An der damals berühmtesten Bühne des deutschsprachigen Raumes geht sie theaterbiografischen Tätigkeiten nach.

Ideen eines liberalen Feminismus

Das feministische Engagement, das sie mit ihrer Schwester teilt, erwacht mit ihrem Buch über die erste englische Feministin, Mary Wollstonecraft, deren Ideen eines liberalen Feminismus sie dem deutschsprachigen Publikum vorstellt. Zusammen mit Elise führt Helene einen der letzten Wiener Salons im bürgerlichen Cottageviertel des heutigen 18. und 19. Gemeindebezirkes.

Das Ende - ohne ein Erinnern

Am 10. Oktober 1942 wird Helene gemeinsam mit Elise, die bereits 1938 ihre Lehrbefugnis verloren hatte und mit Bibliotheksverbot belegt worden war, in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie 1942 beziehungsweise 1943 sterben. Nicht einmal ein Grabstein erinnert an die beiden Frauen. Ganz zu schweigen von einer Büste im Arkadenhof der Universität Wien.

Nur recht und billig wäre es daher, meint Tanzmeister, die "Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings in Dr.-Elise-und-Helene-Richter-Ring" vorzunehmen, um "beiden auf diese Weise ihren Platz im kollektiven Gedächtnis Österreichs zu sichern". (Erika Müller, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29./30.3. 2003)