Ein so schüchterner wie einschüchternder Koloss: Jara (Horacia Camandule), der romantische Held aus Adrian Biniez' "Gigante", der Komödie einer zögerlichen Annäherung.

Foto: Viennale

... die er per Kamera verfolgt. Eine lakonische Komödie über verzögerte erste Schritte.

***

Wie sieht eigentlich "Big Brother" aus? In der Regel bleibt er natürlich unsichtbar. In dem Spielfilm Gigante von Adrian Biniez tritt allerdings ganz leibhaftig einer auf - ein "big brother" zumindest im übertragenen Sinn. Jara (Horacio Camandule) arbeitet in einem Supermarkt. Sein Job ist es, nachts ein Auge darauf zu haben, dass alles nach Vorschrift gemacht wird, wenn die Putzfrauen kommen und der Marktleiter Regale kontrolliert.

Jara sitzt in einem Kämmerchen hinter ein paar Bildschirmen. Wenn ihm etwas auffällt, dann zoomt er sich die Szene heran. Aber meistens sieht er nur mit einem halben Auge hin, denn es gibt kaum Unterschiede zwischen gestern, heute und morgen. Ein "big brother" ist Jara auch seiner massigen Gestalt wegen. Seine T-Shirts mit den Namen bekannter Metalbands wie Biohazard sind auch eher einschüchternd - mit einem Wort: Jara ist kein Typ, mit dem man sich sofort leicht versteht, er ist auch eher introvertiert und erwartet vom Leben nicht viel.

Ein Minimum an sozialem Kontext

Das ändert sich, als er eines Tages eine neue Reinigungskraft auf seinem Bildschirm entdeckt. Julia weckt zuerst einmal seine Beschützerinstinkte, schließlich kennt er das fremde Terrain zwischen den Regalen wie seine eigene Wohnung. Bald wird sein Interesse aber ganz eindeutig romantisch. Die Kamera steht zwischen den beiden, wenn Julia (Leonor Svarcas) aus Versehen einen dieser riesigen Stapel umwirft. Dann lacht Jara leise auf. Später aber greift er in einer schönen Suspense-Szene auch (unbemerkt) ein, als Julia beinahe vom Ladenleiter bei einer Regelwidrigkeit erwischt wird. 

Gigante erzählt also eine Liebesgeschichte, die gänzlich einseitig ist und auch lange so bleibt, denn Julia nimmt von Jara gar keine Notiz. Auch dann nicht, als er ihr schon aus der Welt des Supermarkts hinaus ins Freie folgt, als er mit ihr ins Kino geht - wo er hinter ihr sitzt und sich wundert, welchen Film sie auswählt - und als er sich in einem Internetcafé in ihre Nähe drängt.
Die Komik von Gigante erwächst aus dieser Lakonik, mit der ein ungeschickter Kavalier seinen ersten Schritt vorbereitet und diesen zugleich kunstvoll verzögert. Adrian Biniez bettet diese einfache Geschichte geschickt in ein Minimum an sozialem Kontext ein. Der Supermarkt in Montevideo (Uruguay) ist eine kleine Welt, in der sich die große spiegelt. Auch hier ist die Arbeit prekär, und die ausgleichende Gerechtigkeit bleibt häufig aus.

Die Komik von Gigante ist einer Welt abgerungen, in der Jara wohl auch zum Psychopathen hätte werden können. Adrian Biniez deutet dies an einigen Stellen an, und doch bleibt Jara in jeder Hinsicht ein "großer Bruder", nun allerdings nicht mehr in dem Sinn, dass er alles sieht, was ihn eigentlich nichts angeht, sondern in dem Sinn, wie wir uns häufig den Figuren auf der Leinwand verbunden fühlen - auf eine beinahe familiäre, intime Weise, die uns daran erinnert, dass wir ja auch in einer dunklen Kammer sitzen und einem Mann dabei zusehen, wie er eine Frau verfolgt. (Bert Rebhandl, DER STANDARD/Printausgabe, 22. Oktober 2009)