Was lebt und was ist tot in der Sozialdemokratie? Tony Judt zog es vor, die Frage anhand konkreter Beispiele anzugehen. In einem Vortrag am Montag an der New York University stellte der britische, in den USA lehrende Historiker die Vorteile des vor allem in Europa etablierten Wohlfahrtsstaates den Vorbehalten gegenüber, die Amerikaner - und nicht mehr nur sie - beim Begriff "Sozialismus" (der der europäischen "Sozialdemokratie" entspricht) äußern. Das liege nicht nur an terminologischen Problemen.
Judt wird konkreter. Er könnte in Schweden leben, hätte dort einen ähnlich hohen Lebensstandard wie in Manhattan - und keine jährlichen Arztkosten von 100.000 Dollar. (Judt leidet an dem Gehrig-Syndrom, einer degenerativen Nervenerkrankung, die ihn bereits fast vollständig lähmt; die Zuschauer bekommen, sagt er, "the original talking head".) Wohlfahrtsstaat und demokratischer Sozialismus waren vor allem in kleinen, homogenen Ländern erfolgreich; Judt nennt Skandinavien, Österreich und die Niederlande.
Wenn aber das Gefühl der Zugehörigkeit schwindet, wie vor allem in Holland, dann wird auch die Bindung an den Staat schwächer. Mit soziologischen und ökonomischen Kategorien allein sei dieses Phänomen nicht zu verstehen. Für Judt verlieren die sozialdemokratischen Parteien die Vorstellungskraft, wie über öffentliche Angelegenheiten geredet werden soll. In den letzten Jahrzehnten seien sie dazu übergegangen, die gesellschaftlichen Probleme vor allem in Kategorien von Effizienz zu diskutieren: Ist etwas gut fürs BIP? Bringt es Wachstum? Und nicht mehr: Ist es gut, gerecht, fair, moralisch vertretbar?
Das aber, so Judt, ist nicht natürlich, sondern gelernt. Mit dem Kollaps der Ideologien nach dem Ersten und vor allem Zweiten Weltkrieg schlug die Stunde der Theoretiker, die im Fernhalten der Regierung von der Wirtschaft die Lösung sahen: "Von Mises, Hayek, Schumpeter, Drucker, Popper, alle wurden in Wien oder Umgebung geboren, alle wuchsen mit dem Trauma der Zwischenkriegszeit auf." Vor allem in den USA fielen ihre Lehren auf fruchtbaren Boden.
Einer, der aus den vergangenen Katastrophen ganz andere Lehren zog, war Keynes, eben der Vater des Wohlfahrtsstaates. Das Paradox sei nun, dass der Erfolg dieses Modells in Europa seine eigene Basis untergraben habe. Die Menschen hätten sich an die staatlichen Leistungen gewöhnt, die Erinnerung an die Dreißigerjahre sei verblasst, das Gefühl einer kollektiven Verantwortlichkeit - zu der, ja, auch Steuern gehören - habe abgenommen.
Wachsende Ungleichheit
Seit den 1970er-Jahren habe Ungleichheit in vielen Bereichen zugenommen. Die nach Judt nicht eben erfolgreichen Privatisierungen hätten die Loyalität zum Staat weiter untergraben: Einer Autorität, die für die Allgemeinheit wichtige Funktionen privatem Profit überantwortet, begegnet man mit Desinteresse bis Misstrauen. Oder, Judt zitiert Tolstoi: Man gewöhnt sich eben an alles.
Im 20. Jahrhundert war die Sozialdemokratie stets auf der Seite des Fortschritts, mit der Marx'schen Prämisse, dass der immer weiter entwickelte Kapitalismus sowieso den wahren Sozialismus hervorbringen würde. Nachdem diese Prognose spektakulär fehlgeschlagen ist, sollte die Sozialdemokratie ihre Rolle und die des Staates neu überdenken. "Sie müsste neu artikulieren, woraus eine gute Gesellschaft bestehen soll."
Stattdessen seien wir gerade Zeugen, wie die Linke sogar angesichts der Finanzkrise unfähig ist, an die Konsequenzen einer falschen Gesellschaftspolitik zu erinnern. Wenn aber die Sozialdemokratie eine Zukunft hat, "dann als Sprache der Erinnerung an die schrecklichen Alternativen" . Wie schon Orwell im Spanischen Bürgerkrieg schrieb: Er war nicht sicher, ob seine Ziele funktionieren würden. Aber es lohnte sich, für sie zu kämpfen.
Den fast tausend Zuhörern im übervollen Saal war klar, dass sie möglicherweise Zeugen eines intellektuellen Testaments waren. Nicht nur deswegen gab es minutenlangen Applaus für Tony Judt. (Michael Freund aus New York/DER STANDARD, Printausgabe, 21.10.2009)